Frage an Markus Grübel von Andreas R. bezüglich Jugend
Sehr geehrter Herr Grübel,
ich habe mit Interesse das Kölner Urteil zur Beschneidung durchgelesen. Ich fand darin eine sehr abwägende Begründung vor. Natürlich war das Recht auf freie Religionsausübung darin ein Thema, aber auch andere Rechte, insbesondere das Recht auf körperliche Unversehrtheit. Dieses wird offensichtlich verletzt, da die Vorhaut eine physiologische Funktion hat. So schützt sie das darunter liegende Gewebe und die Vorhaut hat natürlich auch eine sexuelle Funktion, da sie viele Nerven enthält.
In Österreich lässt "Cahit Kaya vom Zentralrat der Ex-Muslime [...] den Fall seiner eigenen als traumatisierend empfundenen Vorhautentfernung im Grundschulalter durch eine prominente Anwältin prüfen, die eine Klage gegen den Staat erwägt" (Quelle: http://www.heise.de/tp/blogs/8/152409 ).
Nun hat eine Mehrheit des Bundestages sich dafür ausgesprochen, Beschneidung nicht unter Strafe zu stellen. Meine Frage: Wieso wird vom Bundestag der freien Religionsausübung der Eltern (nicht des Kindes, das ja ggf. später gar nicht religiös ist oder z.B. zum Christentum konvertiert) ein so großer Stellenwert gegeben und nicht das Recht auf körperliche Unversehrtheit? Wieso zählen im Land der Aufklärung mal wieder religiöse Rechte mehr als andere Rechte? Wieso zählen die Rechte der Eltern mehr als die Rechte der unmittelbar Betroffenen, d.h. der Kinder? Wieso überlässt man nicht den Kindern die Entscheidung, wenn sie alt genug für eine eigene (!) Entscheidung sind? Möchten Sie auf Ihre Vorhaut verzichten? Bisher verstehe ich den Aktionismus im Bundestag nicht.
Mit freundlichen Grüßen
Andreas Reichhardt
Sehr geehrter Herr Reichhardt,
vielen Dank für Ihr Ihre E-Mail zur Frage der Zulässigkeit der Beschneidung von minderjährigen Jungen. Sie üben darin nachdrücklich Kritik an der Absicht des Deutschen Bundestages, eine solche Beschneidung auf gesetzlicher Grundlage auch künftig zuzulassen.
Kaum ein anderes Thema wird derzeit in der Öffentlichkeit so breit und so kontrovers diskutiert. Ausgelöst wurde diese Diskussion durch das Urteil des Landgerichts Köln vom 7. Mai 2012, mit dem wohl erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik ein Strafgericht die Beschneidung eines minderjährigen Jungen aus religiösen Gründen als rechtswidrige Körperverletzung wertete. Es handelt sich zwar um die Entscheidung eines Einzelfalls, die keine Bindungswirkung für andere Gerichte hat. Dennoch hat das rechtskräftige Urteil die jüdische und muslimische Gemeinschaft in Deutschland tief verunsichert. Eltern, die ihre Söhne beschneiden lassen möchten und Ärzte, die die Beschneidungen vornehmen sollen, befürchten nun, dass sie sich damit strafbar machen könnten.
Für das religiöse Selbstverständnis von Juden und Muslimen ist die Beschneidung von Jungen jedoch von grundlegender Bedeutung. Sie fühlen sich durch das Urteil ausgegrenzt und fürchten ganz generell um die soziale Akzeptanz ihres religiösen Lebens in Deutschland.
Die Frage nach der Zulässigkeit der Beschneidung muss deshalb geklärt werden. Eine Klarstellung durch das Bundesverfassungsgericht, welche die Gerichte bundesweit binden würde, ist in absehbarer Zeit nicht zu erwarten. Es ist daher Aufgabe des Gesetzgebers zu entscheiden, ob die religiös motivierte Beschneidung von Jungen trotz verständlicher Einwände mit dem Kindeswohl vereinbar ist.
Der Deutsche Bundestag hat deshalb am 19. Juli 2012 in einem fraktionsübergreifenden Beschluss die Bundesregierung mit breiter Mehrheit aufgefordert, bis zum Herbst einen Gesetzentwurf vorzulegen, der die grundgesetzlich geschützten Rechtsgüter des Kindeswohls, der körperlichen Unversehrtheit, der Religionsfreiheit und des Rechts der Eltern auf Pflege und Erziehung miteinander in Einklang bringt. Der Gesetzentwurf soll für alle Beteiligten Rechtssicherheit schaffen und sicherstellen, dass eine medizinisch fachgerechte Beschneidung von Jungen ohne unnötige Schmerzen grundsätzlich rechtlich zulässig ist. Das Bundeskabinett hat Anfang Oktober 2012 eine entsprechende Gesetzesinitiative verabschiedet.
Diese Entscheidung haben wir uns nicht leicht gemacht. Im Mittelpunkt unserer Überlegungen stand und steht dabei stets das Wohl des Kindes. Dessen Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit und die Grundrechte der Eltern auf Kindeserziehung und Religionsausübungsfreiheit sind im Sinne des Kindeswohls angemessen auszugleichen.
Schon das Landgericht Köln selbst hat in seiner Entscheidung betont, dass die Frage nach der Rechtswidrigkeit der Beschneidung von Jungen „nicht unvertretbar“ auch anders beantwortet werden kann, als das Gericht dies getan hat.
In nahezu allen Ländern der Welt und insbesondere auch in unserem Kulturraum wird diese Frage anders beantwortet. Dort ist die Beschneidung minderjähriger Jungen erlaubt. Auch in Deutschland hat das Amtsgericht Köln als Vorinstanz und haben Zivil- und Verwaltungsgerichte anders geurteilt. So hat etwa das Oberverwaltungsgericht Lüneburg einen Anspruch muslimischer Eltern gegen den Sozialhilfeträger auf Übernahme der medizinischen Kosten der Beschneidung ihres Sohnes bejaht (OVG Lüneburg, Beschluss vom 23.07.2002). Das OVG hat damit zugleich die Rechtmäßigkeit der Beschneidung bestätigt.
Die Beschneidung von Jungen ist als Eingriff in die körperliche Integrität irreversibel und natürlich keine Bagatelle. Mit der Verstümmelung der Genitalien von Mädchen und Frauen, die zweifellos strafbar ist und mit strengen Sanktionen geahndet werden muss, ist die teilweise oder ganze Entfernung der Vorhaut bei Jungen aber nicht vergleichbar. Sicherlich ist Ihnen bekannt, dass die Weltgesundheitsorganisation den Eingriff bei Männern zumindest regional als eine medizinisch und hygienisch sinnvolle Vorsorgemaßnahme sogar empfiehlt, z.B. um die HIV-Infektionsrate zu senken. Schätzungen zufolge ist etwa ein Drittel der männlichen Weltbevölkerung beschnitten. Die Beschneidung von Jungen gilt als der weltweit am häufigsten durchgeführte kinderchirurgische Eingriff; insbesondere in den USA wird er zur Förderung der Gesundheit häufig vorgenommen.
Wir sind der Auffassung, dass Eltern all dies berücksichtigen dürfen, wenn sie entscheiden, ob eine Beschneidung dem Wohl ihres Sohnes dient. Denn es sind die Eltern, die – in den Grenzen unserer Rechtsordnung – den Inhalt des Kindeswohls festlegen. Sie dürfen sich bei Entscheidungen zur Gesundheit ihres Kindes auch von religiösen Motiven leiten lassen, solange die Behandlung bzw. der Eingriff nach allgemeinen Maßstäben medizinisch vertretbar ist. Das Recht von Eltern, ihre Kinder religiös zu erziehen, ist grundgesetzlich geschützt. Und die Beschneidung von Jungen ist, gerade auch mit Blick auf die Situation über Deutschland hinaus, medizinisch vertretbar, wenn sie fachgerecht und ohne unnötige Schmerzen für das Kind durchgeführt wird.
Die Beschneidung von Jungen mit Einwilligung ihrer Eltern soll daher auch künftig zulässig sein, wenn gewährleistet ist, dass dabei alle modernen medizinischen Standards eingehalten werden.
Jüdisches und muslimisches religiöses Leben muss weiterhin in Deutschland möglich sein. Jüdische und muslimische Eltern sollen nicht gezwungen sein, ihre Söhne bei unseren Nachbarn im europäischen Ausland oder in Hinterzimmern von Laien beschneiden zu lassen. Das wollen wir sicherstellen, indem wir die weltweit akzeptierte Beschneidung minderjähriger Jungen verfassungskonform regeln.
Mit freundlichen Grüßen aus Berlin
Markus Grübel MdB