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Lars Boettger
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
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Frage von Alexander Christoph L. •

Sozialmonitoring-Bericht 2024: Strukturelle Fragilität oder politisches Scheitern?

Lieber Herr Boettger,

der Hamburger Sozialmonitoring-Bericht 2024 zeigt, dass viele statistische Gebiete in Hamburgs Osten und Süden über Jahre hinweg in einem niedrigen oder sehr niedrigen Status verharren, trotz jahrzehntelanger Förderprogramme wie RISE.

Angesichts dieser stagnierenden Entwicklung stellt sich die Frage: Hat Hamburgs Stadtentwicklungspolitik ein strukturelles Problem, das durch zentralisierte Programme nicht gelöst werden kann? Wie wollen Sie als Bürgerschaftskandidat sicherstellen, dass Hamburgs Quartiere nicht nur verwaltet, sondern wirklich gestärkt werden – mit Strategien, die langfristig wirken und nicht nur von Legislaturperiode zu Legislaturperiode Flickschusterei betreiben?

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Antwort von
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Lieber Herr L.,

vielen Dank für die Frage!

RISE muss flexibler, der Stadtentwicklungsfonds den Bezirken bekannter, der soziale Mix (mind. 50% sozial geförderter Whg.bau) konsequenter umgesetzt und die Hamburger Wohngemeinnützigkeit per Wohnbewirtschaftungsgesetz eingeführt werden. 

Die RISE Verfahren sind ein wenig zu kompliziert, ich habe schon mit Kolleg*innen zusammen die Behörde darauf angesprochen und es ist auch im Programm bei uns wiederzufinden. Die Laufzeiten für die Zwischenberichte müssen ebenso verlängert werden, da diese sehr aufwändig zu erstellen sind und die Zeitabstände zu kurz sind.

Zudem muss RISE und die bezirkliche Wirtschaftsförderung besser zusammenarbeiten und letztere besser ausgestattet werden. Dann könnten bspw. kleine Messen organisiert werden, an denen für Ansiedlungen geworben werden könnte und Geflüchtete Betriebe kennenlernen, um ggf. in Arbeit oder Gelegenheitsjobs wenigstens zu kommen. 

Das Gebiet um Cranz und Neuenfelde ist so ein Beispiel, das von weniger komplizierten Genehmigungsrahmen, besseren Verknüpfungen in Wirtschaft und in Netzwerke sozialer und kultureller Einrichtungen profitieren könnte. Einige sollten auch saniert und vergrößert werden. Leider kam es hier trotz dezidierter Begründungen gat nicht erst zur Genehmigung als RISE Gebiet.

Zusätzlich brauchen wir ein Instrument, um sozial geförderen Wohnungsbau in Bebauungsplänen festsetzen zu können. Gleichzeitig muss eine gute Verkehrsanbindung ebenso konsequent nachentwickelt werden. Es ist eine Frage von gerechter Stadtentwicklung. 

Weiterhin gibt es in den Bezirksverwaltungen mE  noch keine Schlüssel für eine Gleichbehandlung von Quartieren beim Mitteleinsatz für soziale und kulturelle Einrichtungen. Die Bindung von genehmigten Wohnungszahlen an die sozialen und kulturellen Zuschüsse zur Verteilung von den Bezirken selbst, muss aufgelöst werden, denn auch wenn weniger gebaut wird, müssen die Menschen, die da schon leben ja auch Angebote vorfinden, die finanziert werden müssen. 

Wenn das so bleibt, wird die Entwicklung der Angebote eher rückläufig und bestehende Probleme weiter verschärft. Bspw. sind das Bürgerhaus Bornheide oder das ehem. Sozialkaufhaus Wandsbek, das wegen Mangel an Geld schließen musste. Auch andere sind stark von Rahmenzuweisungen (die sind zu Glück noch stabil) und von diesen sog. Politik oder Sondermitteln abhänging.

Bei der Mobilitätswende fehlen noch die Planungen für eine gerechte Wegeführung. Will sagen, innerhalb und ausserhalb RING 2, also auch im Süden und Osten, müssen in bevölkerungsreichen Quartieren die Radwege, Plätze, Fusswege und Fahrbahnen gleichermassen saniert werden. Dabei dürfen die Tangentialverbindungen auch nicht vergessen werden.

Für alles das setze ich mich ein! Ich habe dazu auf Bundes- und Landesebene an den Programmen mitgeschrieben. Um diese komplexe Lage im politischen Alltag und auch schon jetzt als Mitglied im Landesvorstand und in der aktuellen Phase der Kandidatur nachhalten zu können, habe ich mir eine Seite bauen lassen, in der ich Dinge nachsehen und weiterverfolgen kann, aber auch Kolleg*innen anbieten kann, daran mitzuarbeiten: www.gerechte-stadtentwicklung.de 

Um den Hintergrund von RISE und gerechter Stadtemtwicklung im Zusammenhang mit weiteren Faktoren übergreifend zu beleuchten noch ein paar Ausführungen:

Seit 2019 beschäftige ich mich auf Bezirks- und Landesebene mit dem RISE Programm. Dieses Rahmenprogramm integrierte Stadtteilentwicklung (RISE) soll Quartiere mit besonderem Förderbedarf sozial und von den Kulturangeboten her mit intensiver Bürger*innenbeteiligung nachentwickeln. Auch Einrichtungen für den Sport, Bewegung und Gesundheit, die Aufenthaltsqualität und die Wiederbelebung der Subzentren sollen mit dem Programm nachentwickelt werden. 

Auf der einen Seite ist es toll, so ein Programm zu haben, allerdings ist auch richtig, dass hier Entwicklungsfehler der Vergangenheit teuer korrigiert werden müssen. Der Sozialindex ist vielfach nur marginal in Bewegung. Die Behörde verkauft uns das als Erfolg, da es dem aktuellen Bericht nach bspw. „keine signifikante Verschlechterung“ in den Quartieren oder Stadtteilen gab.

Die Ursache für diese Entwicklung und das Notwendigwerden von RISE, das auf Mittel des Bundes aus der Städtebauförderung zurückgreift, liegt in einer ungleichen Stadtentwicklungspolitik was die innere und äußere Stadt angeht. Etliche Quartiere, die nachentwickelt werden müssen sind als sog. Schlafviertel vielfach auch durch die Baustrategie der damaligen gewerkschaftsnahen Neuen Heimat (NH) entstanden. 

Anfangs lief es noch gut, und es hielt eine gut gemischte Mieter*innenschaft Einzug in die Wohnungen. Das bedeutet Kaufkraft war da, Ladengeschäfte, die in den neuen Subzentren mitgebaut wurden, konnten Geld verdienen. Die Idee damals war auch, dass klassischerweise die Frau zu Hause blieb, und der Mann mit dem Auto (Schuhmachers autofreundliche Fächerstadt, von der wir noch die Magistralen, die Hauptverkehrsstraßen, geerbt haben)  zur Arbeit fuhr. Die Frau sollte die Kinder betreuen, Einkaufs- und Nebentätigkeitsgelegenheiten in den Einrichtungen oder Geschäften vorfinden. So kam die Bezeichnung „Grüne Witwe“ zustande. Die Siedlungen waren auf der grünen Wiese entstanden.

Später in den 80ern gab es eine Welle an Arbeitslosigkeit und die Menschen mussten dort wegziehen. Die Wohnblöcke wurden leergezogen und Verwahrlosung griff um sich. Dann wurden die Wohnungen vielfach an Menschen und Haushalte vergeben, die sozialhilfebedürftig waren. Damit fingen die heute noch sichtbaren Probleme an. Denn eine soziale Durchmischung fand nicht mehr statt, es gab keine soziale Integration von verschiedenen Gruppen in die Stadtgesellschaft. Bis heute sind nicht alle Stadtteile per Schiene angebunden oder haben schwierige ÖPNV Anbindungen. Das alles wurde in den Nullerjahren, insbesondere den letzten 15 Jahren angegangen und dauert noch an, hier die Gesamtsituation zu verbessern.

Die Gesundheitsversorgung bspw. ist immer noch sehr deutlich sichtbar ungleich verteilt. Die Wohnblöcke sind teilweise unsaniert und die Instandhaltung hängt gelegentlich.

Nach dem die CDU/FDP Regierung 1990 die Skandale bei der Neuen Heimat als Grund nutzte die deutsche Wohngemeinnützigkeit abzuschaffen, und gleich ganze Quartiere dee NH privatisiert wurden, drehte sich der Wohnungsmarkt nochmal weiter. Es wurden einige Quartiere in Genossenschaften oder die städtische Saga überführt, das hat die nachfolgende Situation mit den steigenden Mieten immerhin abgemildert.

Die Privatisierung großer Teile des NH Bestandes führt zu den heute sichtbaren Problemen. Denn immer noch wohnen dort eher Menschen mit wenig Kaufkraft, guten Bildungs- und Aufstiegschancen. Die fehlende soziale Durchmischung hier hat auch eine Ursache im von der SPD propagierten Drittelmix. Hiernach entstehen in Neubauquartieren 1/3 sozial geförderte, 1/3 frei finanzierte und 1/3 Eigentumswohnungen und verbleiben geoße Bestände an Sozialwohnungen am Stadtrand oder in Großsiedlungen mit Hochhäusern. Das Drittel Sozialwohnungen im Neubau ist deutlich zu wenig. Dadurch entsteht zu wenig bezahlbarer Wohnungen in der Innenentwicklung und wenig Menschen können per Wohnungswechsel bei Veränderungsbedarf von den ehemaligen NH Quartieren in ein anderes inneres Quartier ziehen, in dem es eine sozial vielfältigere Durchmischung gibt.

Mit der Idee das „Bauen auf der Grünen Wiese“ von Olaf Scholz während der noch aktuellen Legislatur, mit den versprochenen 400.000 neuen Wohnungen im Jahr, davon 100.000 Sozialwohnungen, wieder aufzurufen, würde wir uns die Problematik gerade wieder neu schaffen. Die als Bauturbo vorgeschlagene Gesetzesänderung kam glücklicherweise nicht. Wir brauchen hingegen lieber Regelungen für die Innenentwicklungen, bspw. für die Magistralen.

Um der bisherigen anhaltenden und sich verstärkenden Stagnation im Bereich der sozialen Durschmischung zu begegnen, müssen wir zunächst vom Drittelmix abkehren und zu einem, wie ich es im Programm genannt habe, sozialen Mix mit mind. 50% sozial gefördertem Wohnungsbau kommen. Um die Mieten im Innenbereich zu stabilisieren und auch abzusenken, müssen zudem die Steigerungen der Bodenpreise gebremst werden. Das kann nur durch die Weiterentwicklung der reformierten Grundsteuer passieren, die als Bodenwertsteuer dann auf die tatsächlichen Bodenwerte berechnet wird. 

Dazu brauchen wir eine Hamburger Wohngemeinnützigkeit mit Steuererleichterungen, zinslosen oder zu geringen Zinsen ausgegebenen IFB Krediten und bevorzugten Vergaben von Grundstücken in Erbpacht an gemeinnützige Bauvereine, kleingenosschenschaftlichen Baugemeinachaften, etc. Generell dürfen keine städtischen Grundstücke mehr verkauft sondern private vermehr angekauft werden. Im letzten Jahr sind da schon Fortschritte zu sehen gewesen. Dazu brauchen wir idealerweise einen kommunalen Bodenfonds, allerdings kann Hamburg so etwas auch selbst finanzieren. Diese Strategie wird auf Zeit weniger sozial geförderten Wohnungebau nötig machen, da über die Stärkung des geneinnützigen Anteils am Markt die Privatisierung der Gewinne aus Mieten zurückgenommen wird, und die Mieten günstiger werden.

Die obigen Maßnahmen zum Einhegen der Mieten und auch deren Absenkungen in einigen Bereichen fördert die Kaufkraft, schafft also auch attraktivere Angebote mit weniger staatlicher Förderung, und fördert die Möglichkeit passendere Wohnungen zu finden, also auch die Bildungschancen und Aufstiegsmöglichkeiten.

Vielen Dank für ihr Interesse an diesem spannenden Themenfeld! Ich höre gern von Ihnen, wenn sie weitere Fragen oder Anregungen haben.

Gruß, Lars Boettger.

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