Was sagen Sie zu den Aussagen von Stephen Chu?
Sehr geehrter Herr von Notz,
der Physiknobelpreisträger und ehemalige Energieminister von den USA (2009-2013) kritisiert eindeutig
die Grünen und ihre Energiepolitik. Was sagen Sie dazu?
Viele Grüße
K.R.
Sehr geehrter Herr R.,
haben Sie vielen Dank für Ihre Anfrage und das Interesse an meiner politischen Arbeit. Über beides habe ich mich sehr gefreut! Bitte entschuldigen Sie die verzögerte Rückmeldung auf Ihre Frage.
In dem von Ihnen zitierten WELT-Artikel werden Ausschnitte eines Interviews der FAS mit Steven Chu zitiert. Dabei ist mir aufgefallen, wie deutlich sich der kürzere WELT-Artikel von der Originalquelle unterscheidet. Dies wird schon mit Blick auf die Überschriften deutlich: Während die FAS titelt „Wenn die Grünen vernünftig wären, würden sie die Atomenergie vorziehen“, titelt die WELT „Physik-Nobelpreisträger kritisiert Grüne – „Viele Falschinformationen“.
In dem Interview, auf welches ich mich als Originalquelle beziehen will, schildert Chu seine Einschätzung der Energiesicherheit Deutschlands nach Abschaltung der Atomkraftwerke. Seiner Meinung nach sei die Deckung des hohen industriellen Strombedarfs und das Erreichen der Klimaziele nur mit Atomkraft möglich. An der grünen Energiepolitik kritisiert er also vor allem die – von der Vorgängerregierung aus gutem Grund eingeleitete - Abschaltung der AKW.
Klar ist: Der (erneute) Atomausstieg wurde bereits 2011 – als Reaktion auf die Nuklearkatastrophe von Fukushima – unter schwarz-gelb mit einer großen parlamentarischen Mehrheit beschlossen. Es waren die Grünen, die dann entschieden haben, einzelne Meiler länger am Netz zu lassen.
Nachdem auch sie stufenweise vom Netz genommen wurden, hatten AKW im März 2023 nur noch einen Anteil von 5 % an der Stromerzeugung, das wurde kurzfristig komplett durch flexible andere Kraftwerke ersetzt.
Wir setzen verstärkt auf den Ausbau der erneuerbaren Energien. Schon jetzt stellen Erneuerbare über 50 % des Stroms bereit. 2030 sollen es 80 % sein. Darauf hat sich die Ampel-Koalition verständigt und den EE-Ausbau durch mehrere Gesetzespakete seit Anfang dieser Wahlperiode massiv beschleunigt – gegen vielfältige Widerstände.
Als Grüne bleiben wir dabei: Ein klimaneutrales Stromsystem ist möglich. Wie das aussehen kann, zeigen wissenschaftliche Studien, an denen wir uns in unserer faktenorientierten Politik orientieren. Ein Beispiel zu einer solchen Studie finden Sie hier verlinkt: https://www.ise.fraunhofer.de/de/veroeffentlichungen/studien/wege-zu-einem-klimaneutralen-energiesystem.html.
Wir können und wollen Atomkraft für die nachfolgenden Generationen nicht länger verantworten. Sie wäre auch zu teuer, denn die Stromentstehungskosten von Atomkraft sind deutlich höher als die von Erneuerbaren, auch wenn man die von Erneuerbaren verursachten Systemkosten (z.B. für Speicher) berücksichtigt. Atomkraftwerke sind weiterhin nicht ohne ein erhebliches Risiko zu betreiben.
Wir sehen aktuell, wie in der Ukraine Atomanlagen im Besonderen und die Energieinfrastruktur im Allgemeinen zu strategischen Zielen werden. Auch bei uns nehmen Angriffe auf Kritische Infrastrukturen, auch und gerade im Energiebereich, kontinuierlich zu. Die entsprechenden, sehr einhelligen Warnungen unserer Sicherheitsbehörden nehmen wir sehr ernst.
Außerdem sind die Alterung der europäischen Reaktorflotte und die zunehmende Tendenz zur Laufzeitverlängerung von alten AKW mit neuen Risiken verbunden. AKW-Reaktordruckbehälter in Belgien, Frankreich und UK weisen Risse auf, die ihre Widerstandsfähigkeit beeinträchtigen könnten.
Alte Anlagen sind noch schlechter gegen externe Angriffe oder Flugzeugabstürze geschützt und sind mit weniger Sicherheitssystemen zur Unfallbeherrschung bestückt. Aufgrund von Störungen und langwieriger Wartungen steht Atomstrom im Schnitt mehr als ein Fünftel der Zeit nicht zur Verfügung, ein Rekord im Vergleich zu anderen Stromquellen. Dazu hat beispielsweise das DIW geforscht: https://www.diw.de/de/diw_01.c.811441.de/publikationen/wochenberichte/2021_08_1/zehn_jahre_nach_fukushima______kernkraft_bleibt_gefaehrlich_und_unzuverlaessig.html#section2.
Die Entscheidung, aus der Atomkraft auszusteigen, war aufgrund der hohen Kosten, der noch immer ungeklärten sicheren Endlagerfrage und der nuklearen Sicherheit richtig.
Sollten Sie noch an weiteren unserer Argumente interessiert sein, kann ich Ihnen folgenden Link empfehlen: https://www.gruene-bundestag.de/themen/atomausstieg/fragen-und-antworten-zur-atomkraft.
Mit besten Grüßen
Konstantin v. Notz