Frage an Ingrid Nestle von Martin E. bezüglich Energie
Sie sind die energiepolitische Sprecherin Ihrer Partei.
Sie und Ihre Partei wollen die Energiewende beschleunigen indem Photovoltaik und Windkraft massiv ausgebaut wird und Kohlekraftwerke und Kernkraftwerke möglichst schnell abgeschaltet werden.
Ist Ihnen ff. Szenario bekannt?
Windkraft wird auf eine installierte Leistung von Onshore 250 GW und Offshore 35 GW ausgebaut. (Die 35 GW schreiben Sie auch in Ihr Wahlprogramm rein).
Photovoltaik wird auf eine installierte Leistung von 110 GW ausgebaut.
KKW's und Kohlekraftwerke abgeschaltet.
Bio und Wasserkraft unverändert.
Ich habe das mit den stundengenauen Daten (Quelle: Agora) von 2019 simuliert.
Damit hätte man in 2185 Stunden ein Unterdeckung mit in Summe 28 TWh und in den restlichen 6575 h zu viel Strom im Netz, in Summe 288 TWh.
Der Zeitraum der längsten Unterdeckung wäre in der dritten Januarwoche gewesen. Mit in Summe ca. 2,6 TWh.
Also brauchts ein Speicher mit 2,6 TWh. Den gibt es nicht. Oder es müssen in diesen 8 Tagen im Durchschnitt 13,5 GW eingeführt werden. Woher?
Die Leitung aus Norwegen liefert ca. 1 GW. Dann brauchts noch 12,5 GW. Woher?
Die paar Speicherkraftwerke in Deutschland können 6,5 GW liefern und sind dann in 6 Stunden leer.
Die Stunde des größten Leistungsdefizits wäre am 24.01.2019 16:00 mit einer Unterdeckung von 43 GW
Anerkennen Sie diese Darstellung?
Welches Konzept haben Sie um damit umzugehen?
Sehr geehrter Herr Eisenhardt,
vielen Dank für Ihre Nachricht und Ihre kritischen Fragen zur energiepolitischen Entwicklung. Genau mit diesen Themen haben wir uns natürlich intensiv beschäftigt. Die Umstellung unserer Energieversorgung ist eine große, wenn nicht sogar einer der größten Herausforderungen für unser Land und kann nicht mal eben so nebenbei oder allein durch das Aufstellen von Windrädern und PV-Modulen bewältigt werden. Vielmehr ist gutes und kompetentes Management von Seiten der Politik notwendig. Denn wie Sie selbst richtig anmerken, kommt es nicht nur auf die Gesamtmenge des produzierten Stroms an, sondern maßgeblich auf dessen zeitliche und räumliche Verfügbarkeit. Es ist daher essentiell, dass uns ein Ausgleich temporärer Unterschiede zwischen Stromangebot und –nachfrage gelingt.
Im Mix der verschiedenen Erneuerbaren gehe ich nach derzeitigem Stand bei 100% Erneuerbaren von mehr PV und Offshore aus als in Ihrem Beispiel, aber die Grundsatzfrage bleibt die gleiche. Sie stellen korrekt dar, dass im Jahresverlauf vor allem im Winter ein Defizit drohen könnte - wenn wir naiv einfach alle fossile Kraftwerke abschalten würden und im wahrsten Sinne des Wortes auf besseres Wetter hoffen. Unser Konzept von der grünen Bundestagsfraktion haben wir kürzlich als Positionspapier veröffentlicht. Dort können Sie mehr Informationen dazu finden, welche konkreten Schritte für dessen Reform notwendig sind: https://www.gruene-bundestag.de/themen/energie/auf-dem-weg-zu-100-prozent-erneuerbarer-energie
Hier ein Überblick in Kürze:
1. Schon heute gibt es viele Stromverbraucher, die viel flexibler auf die Verfügbarkeit von Wind und Sonne reagieren könnten, dies aber aufgrund von falschen Rahmenbedingungen am Strommarkt nicht tun. Die großen neuen Stromverbraucher wie Elektromobilität, Wärmepumpen und die Herstellung von Wasserstoff sind sogar zu einem großen Teil zeitlich flexibel, Wir wollen die Rahmenbedingungen am Strommarkt so setzen, dass sich Flexibilität lohnt. Davon profitieren auch die nicht flexiblen Verbraucher, weil in den Stunden mit relativ wenig Wind und Sonne mehr Strom für sie übrig bleibt.
2. Speicher werden eine wichtige Rolle spielen. Dazu gehören sowohl existierende als auch neue Speicher. Auch hier helfen die neuen Rahmenbedingungen am Strommarkt, dass diese sich lohnen und im Sinne der Gesamteffizienz eingesetzt werden.
3. Durch den Austausch mit Nachbarländern können unterschiedliche Wetterverhältnisse, Verbrauchsmuster, flexible Verbraucher und Speicher zu einem teilweisen Ausgleich beitragen. Nur ein Beispiel: allein in Norwegen steht schon heute die 2000-fache Kapazität an Speicherwasserkraftwerken als in Deutschland, in den Alpenländern und den anderen skandinavischen Ländern kommen noch große Mengen hinzu. Durch den überregionalen Austausch können insgesamt die Stunden verringert werden, in denen wir als Back-up setzen auf
4. Gaskraftwerke, die nur in den seltenen Fällen noch zum Einsatz kommen, wenn Wind und Sonne über mehrere Tage großräumig nicht liefern. Für diese sehr seltenen Fälle können die Gaskraftwerke mit erneuerbarem Gas betrieben werden. Das ist zwar relativ teuer, was aber bei dem sehr geringfügigen Einsatz bei den Gesamtkosten der Stromversorgung nicht sehr ins Gewicht fällt. Das Vorhalten der Gaskraftwerke ist ebenfalls nicht teuer: für nur 4% der heutigen Kosten der Stromversorgung können 60 GW an Gaskraftwerken vorgehalten werden, was zusammen mit verfügbaren Speichern den nicht flexiblen Verbrauch abdecken sollte.
Einen guten Überblick über Flexibilitätsoptionen bietet die Studie des öko-instituts erstellt im Auftrag des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie (bzw. zu dem Zeitpunkt „und Technik“): https://www.oeko.de/fileadmin/oekodoc/Systematischer_Vergleich_Flexibilitaetsoptionen.pdf
Ich hoffe, Ihre Bedenken ein Stück weit reduziert und manche der Fragen beantwortet zu haben. Ich freue mich immer über Menschen, die, wie Sie, mitdenken und sich einsetzen für eine realistische Darstellung der Energiewende und der vielen nötigen Schritte.
Mit besten Grüßen
Ingrid Nestle