Wieviel Hoffnung haben Sie, dass die größten Fluchtursachen - also Hunger, Umweltzerstörung, Kriege, Gewaltherrschaft - in absehbarer Zeit vermindert oder sogar ganz abgeschafft werden können ?
Sehr geehrter Herr L.,
Ihre Frage ist eine dieser allumfassenden Fragen, die uns seit Jahrzehnten umtreiben und auf die es keine einfachen Antworten gibt.
Es ist alarmierend, dass die Zahl der Hungernden weiter steigt. Die Erfolge, die in den vergangenen Jahren im Kampf gegen den Hunger erreicht werden konnten, stehen derzeit auf dem Spiel. Und dieser besorgniserregende Trend geht insbesondere auf gewaltsame Konflikte und die Auswirkungen der Corona-Pandemie zurück. Und gleichzeitig trifft die Klimakrise die Menschen im Globalen Süden mit voller Wucht.
Aber auch die strukturellen Ursachen für die Ausbreitung des Hungers müssen endlich angegangen werden. Es braucht deshalb eine grundlegende Neuausrichtung in vielen Politikfeldern: die Landwirtschaft muss konsequent agrarökologisch umgebaut werden. Internationale Handelsbeziehungen müssen auch den Interessen und Bedürfnissen der so genannten Entwicklungsländer dienen. Exzessive Nahrungsmittelspekulationen und Patente auf Saatgut müssen ein Ende haben. Und es braucht eine gerechte Verteilung von Land und mehr Rechtssicherheit für die ländliche Bevölkerung, insbesondere für Frauen, Indigenen und marginalisierten Gruppen.
Kriegen und Gewaltherrschaft versucht die internationale Gemeinschaft in großen Kraftanstrengungen immer wieder auf dem diplomatischen Weg ein Ende zu bereiten. Doch Sie wissen selbst, wie schwer und schier aussichtslos das in vielen Fällen ist – beispielsweise Syrien, Libyen oder ganz aktuell auch Afghanistan. Umso wichtiger ist es, dass endlich Schluss ist mit Waffenexporten.
Die größte Herausforderung, der wir uns allerdings derzeit weltweit stellen müssen, ist die Klimakrise. Sie sorgt schon heute für Überschwemmungen und Waldbrände verheerenden Ausmaßes, für die Vernichtung von Ernten, für Hungerkatastrophen im Globalen Süden, sie führt zu kriegerischen Auseinandersetzungen um Wasser und weiteren Umweltkatastrophen. Deshalb ist es längst an der Zeit zu handeln. Wir müssen endlich ganz konkret dafür zu sorgen, dass die Pariser Klimaziele eingehalten werden – auch in Deutschland. Wir müssen mit unserer Politik dafür sorgen, dass das 1,5-Grad-Ziel eingehalten wird. Deshalb brauchen wir neue Prioritäten: Wir müssen fördern, was Mensch, Natur und Klima schützt. Wir müssen jetzt handeln, um die Freiheit kommender Generationen zu erhalten.
Die Klimakrise ist die Existenzfrage unserer Zeit. Daher ist Klimaschutz keine Zukunftsaufgabe, sondern muss jetzt passieren. Wenn wir jetzt konsequent handeln und die sozial-ökologische Transformation einläuten, können wir die Klimakatastrophe noch verhindern und zu einer klimagerechten Welt beitragen. Das heißt aber auch, dass wir schleunigst aus der Kohle aussteigen müssen. Das heißt, dass wir eine Verkehrswende brauchen, die den öffentlichen Nahverkehr wieder viel stärker ausbaut. Das heißt, dass wir weg vom Verbrennungsmotor kommen müssen. Das heißt, dass sich unsere Automobilindustrie umstellen muss auf Elektromobilität und unsere Stahlproduktion saubere Energie aus Wasserstoff braucht. Und das heißt, dass wir in diesem Umbau unserer Wirtschaft soziale Gerechtigkeit groß schreiben. Klimaneutralität muss das Ziel sein. Wenn wir das schaffen, dann haben wir auch Fluchtursachen verringert.
Mit freundlichen Grüßen
Beate Müller-Gemmeke