Frage an Beate Müller-Gemmeke von Gabriele V. bezüglich Verbraucherschutz
Sehr geehrte Frau Müller-Gemmeke,
1. Trifft es zu, dass das Rentenüberleitungsgesetz (RÜG) ausschließlich für die Bürger und Versicherten des Beitrittsgebietes geschaffen wurde, um deren Rentenbelange nach der Wiedervereinigung zu regeln?
2. Waren Ihrer Meinung nach die Deutschen, die vor dem Mauerfall und Wiedervereinigung die DDR verlassen haben und rechtsstaatlich in die alten Bundesländer eingegliedert wurden, zum Zeitpunkt des Beitritts der DDR als DDR-Bürger anzusehen?
3. Die ehemaligen DDR-Flüchtlinge wurden im Zug ihrer Eingliederungsverfahren nach geltendem Recht (Fremdrentenrecht) in die bundesdeutschen Sozialversicherungen übernommen. Die Rentenversicherungsträger haben den Versicherten darüber entsprechende Bescheide erteilt. Können Sie ein Gesetz nennen, das nach erfolgtem Beitritt der DDR die Löschung dieser Rentenanwartschaften und eine Neubewertung nach dem RÜG zulässt bzw. sogar verlangt? Können Sie ein Gesetz nennen, das die Versicherungsträger aus der Pflicht entlässt, die betroffenen Versicherten darüber zeitnah zu informieren, also auf die Versendung entsprechender Aufhebungsbescheide zu verzichten?
4. Der Bundestag ist lt. Grundgesetz der Gesetzgeber. Die Gesetzesvorlagen werden in der Regel von Fachleuten aus den einschlägigen Ministerien erstellt. Gesetzeskraft erhalten diese nach der Verabschiedung durch den Bundestag.
Halten Sie es für vertretbar, dass die Exekutive nach der Verabschiedung eines Gesetzes dieses Gesetz eigenmächtig auf eine weitere Zielgruppe anwendet, die bei der Debattierung und Verabschiedung des Gesetzes ausdrücklich ausgeschlossen wurde?
Mit freundlichen Grüßen
Gabriele Voigt
Sehr geehrte Frau Voigt,
Sie haben sehr detaillierte und sehr spezifische Fragen gestellt. Da ich derzeit nicht im Bundestag bin, kenne ich mich mit diesem Sachverhalt nicht aus. Recherchen waren also notwendig. Im Folgenden schicke ich Ihnen nun eine Antwort. Aber ich muss gestehen, dass ich mir noch nicht sicher bin, ob ich alle Details tatsächlich überschauen und vor allem richtig einschätzen kann. Ich hoffe Sie haben dafür Verständnis.
Zur Frage 1:
Mit dem Rentenüberleitungsgesetz (RÜG) vom 25.7.1991 hat der gesamtdeutsche Gesetzgeber die Versorgungssysteme der DDR in die Rentenversicherung überführt. Rechtsgrundlage hierfür ist Artikel 3 des RÜG. Dieser Artikel beinhaltet das Anspruchs- und Anwartschaftsüberführungsgesetz (AAÜG). Das AAÜG regelt abschließend die Überführung der Zusatz- und Sonderversorgungssysteme in die Rentenversicherung. Es verschärfte die vorläufigen Begrenzungen des Rentenangleichungsgesetzes und verkürzte die Dauer des im Einigungsvertrag vereinbarten Besitzschutzes auf den 31.12.1993. Auf der Grundlage späterer Entscheidungen des Bundessozialgerichts und des Bundesverfassungsgerichts hatten diese Regelungen jedoch teilweise keinen Bestand.
Zur Frage 2:
Die BRD hat eine eigene Staatsbürgerschaft für DDR-BürgerInnen nicht anerkannt. Deshalb waren alle Menschen als deutsche StaatsbürgerInnen anzusehen. Ihre Frage zielt jedoch auf ein rentenrechtliches Problem ab: Flüchtlinge, die vor 1989 in den "Westen" gekommen sind, wurden nach dem sog. Fremdrentenrecht behandelt. Nach der Wiedervereinigung wurden sie fiktiv so gestellt, als hätten sie in der DDR alle Rentenbeiträge gezahlt und bekamen die sog. Zusatzrenten gutgeschrieben. Ausreisewillige, Flüchtlinge und politische Häftlinge haben dementsprechend diese Renten in der DDR nicht bezahlt und konnten nach ihrer Flucht natürlich nicht mehr darauf hoffen, Zahlungen in Ostmark aus der DDR zu erhalten. Im Westen erhielten sie von der Bundesanstalt für Arbeit (BfA) Bescheinigungen nach dem Fremdrentenrecht. Richtig war die Entscheidung, Übersiedler, die mit Beginn der Friedlichen Revolution die DDR zu Hunderttausenden verlassen haben, nicht nach dem Fremdrentenrecht zu bewerten. Das hätte die Auswanderung aus dem Beitrittsgebiet noch weiter verschärft. Die daraus folgende Gleichmachung der Neu- und der Bestandsaussiedler vermengt aber zwei Gruppen, die individuell hätten behandelt werden müssen. Die Bundesregierung, die zu einer Vereinheitlichung des Rentenrechts kommen will und das Prinzip der Selbstverantwortung für die Zahlung in die Freiwillige Zusatzrentenversicherung betont, argumentiert stattdessen formal.
Zur Frage 3:
Das System der Fremdrente wurde zu teuer, als ab Sommer 1989 Hunderttausende ungehindert die DDR verlassen konnten. Im Zuge der Einheit wurde deshalb das Gesetz zur Herstellung der Rechtseinheit in der gesetzlichen Renten- und Unfallversicherung (Renten-Überleitungsgesetz - RÜG) geschaffen. Ziel war, allen DDR-BürgerInnen eine sehr gute Rente zu verschaffen, die sich allein auf die "Ostbiografien" stützte.
In diesem Zusammenhang wurde der § 256a SGB VI erlassen. Er unterstellte allen nach 1937 Geborenen dem RÜG, unabhängig davon, wo sie am 9.11.1989 wohnhaft waren. Für die Rente war nun plötzlich allein die DDR-Biografie ausschlaggebend - und das für Neu- wie für Altaussiedler. Die BfA nahm die alten Rentenbescheide für Altaussiedler zurück, zählte die effektiven "Ostbeiträge" (die die Altübersiedler allzu häufig nicht aufzuweisen hatten) und erteilte neue, wesentlich niedrigere Bescheinigungen. Juristisch haben schon viele Gerichte die Praxis der BfA abgesegnet, da die Rechtsgrundlage besteht.
Der Bundesregierung geht es sehr offenkundig allein um Geldeinsparungen, die sich politisch (Vertrauen, Willkür- warum nur die vor 1937 Geborenen, warum kein Wohnortprinzip) nur schwer vertreten lassen. Es handelt sich aber um einen sehr überschaubaren Personenkreis (die Flüchtlinge, die aus politischen oder wirtschaftlichen Gründen vor 1989 nicht in die Zusatzrenten eingezahlt haben). Die finanziellen Auswirkungen sind individuell allerdings oft gravierend (eine Rente im "Osten" wurde erst durch eine Zusatzrente wirklich tragfähig). Deshalb ist die Frage politisch bedeutsam, da immer mehr Jahrgänge der Altübersiedler in Rente gehen und erst jetzt das Problem sehen. Im Bundestag wurden die Auswirkungen des insgesamt ja recht positiven RÜG für Altaussiedler nicht vollständig erkannt.
Zur Frage 4:
Nach meiner Ansicht muss es im Einzelfall geprüft werden, wenn eine Zielgruppe vor Verabschiedung des Gesetzes ausgeschlossen, danach aber mit einbezogen wird. Da ich den Einzelfall, auf den Sie anspielen, nicht kenne, kann ich jedoch keine endgültige Aussage treffe.
Mit freundlichen Grüßen
Beate Müller-Gemmeke