Kann die Lieferung schwerer Waffen in die Ukraine zu eine Ausweitung des Krieges und immer weiteren Opfern führen? Sollten jetzt nicht Verhandlungen über die Beendigung des Krieges begonnen werden?
Sehr geehrte Frau Martens,
sollten jetzt, um den Krieg zu beenden, Russland nicht auch Angebote unterbreitet werden? Zum Beispiel, die Sanktionen wieder zurückzunehmen? Und auf die Militärische Zusammenarbeit der Nato mit der Ukraine, wie gemeinsame Manöver und militärische Ausbildungen zu verzichten? Sollte jetzt nicht auch für den seit Jahren schwelenden Krieg im Dombass, der dort sehr viel Leid und Zerstörung mit tausenden Toten brachte, eine wirksame Verhandlungslösung gefunden werden? Halten Sie dass für möglich? (Auch wenn es im Dombass wahrscheinlich kein Referendum geben wird?) Könnte Putin, der offensichtlich denkt, dass in der der Ukraine Atomwaffen stationiert werden könnten, noch ein Vertrag angeboten werden, der dem Atomvertrag mit den Iran gleicht?
Ich beziehe mich hier auch auf Putins Rede vom 21.2.22, woraus ich schließe, dass solche Punkte für ihn bedeutsam sind.
Sollte jetzt nicht alles getan werden, was zu einer Deeskalation beträgt?
Mit freundlichen Grüßen
Sehr geehrter Herr G.,
gerne antworte ich auf Ihre Fragen:
Der Krieg in der Ukraine wird auch in den Medien ausgetragen.
Der Ukraine-Krieg ist ein mediales Dauerereignis, das 24/7 auf geschätzt 20 Rundfunkkanälen allein in Deutschland stattfindet. Und das Internet kommt noch hinzu. Der Krieg ist ununterbrochen, zu jeder Tages- und Nachtzeit gefühlt live zu verfolgen. Bilder von Toten und Verwundeten. Interviews mit Eingeschlossenen, Geflüchteten, Frauen, Kindern und Soldaten. Statements vom ukrainischen Präsidenten und seinem Botschafter in der Bundesrepublik Deutschland. Jeden Abend eine Talkshow, in der ein ehemaliger General oder andere Experten sitzen, uns das Kriegsgeschehen erklären und über den Fortgang des Krieges sinnieren. Und jeden Tag hat man den Eindruck, nicht nur die CDU und die Springer-Presse treiben die Politik vor sich her in ihrem Bellizismus.
Der Krieg in der Ukraine ist uns deshalb nicht nur geographisch viel näher, sondern erscheint uns dadurch noch grausamer und furchtbarer als die vielen anderen Kriege auf dieser Welt, die genauso viel Leid und Opfer fordern.
Der Krieg in der Ukraine ist also gerade hier in Deutschland medial, politisch und moralisch so aufgeladen, dass eine sachliche Diskussion darüber, welche Hilfe wir bereits schon leisten und wie wir weiterhin helfen können, oftmals untergeht.
Sachliche Argumente zur Strategie der Ukraine, Deutschlands, der EU oder der NATO zur Beendigung des Krieges finden kaum Gehör.
Und diese aufgeheizte Berichterstattung und Kommentierung hat sich spätestens nach dem 24.02.2022 auf ein Thema verengt und droht alles, was den Krieg betrifft, nur auf eines zu reduzieren: auf Waffen. Aus Deutschland. Immer mehr, immer schwerere. Und schnell.
Deutschland muss helfen, darf aber auch Fragen und Zweifel artikulieren
Selbst wenn wir dem ersten und völlig richtigen Impuls nachgeben, dass wir helfen müssen, so kommen doch zwangsläufig auch berechtigte Fragen auf und bestätigen sich Zweifel.
Es sind diese praktischen Fragen: Haben wir die Waffen überhaupt? Sind sie einsatzbereit und können wir auf sie verzichten, ohne unsere eigenen Bündnisverpflichtungen zu verletzen? Wie kommen sie unbemerkt in die Ukraine? Wie kann der Ringtausch funktionieren? Haben wir dort Leute, die mit den gelieferten Waffen umgehen können? Wie können die Ukrainer schnell die Waffen und nicht nur die Fahrzeuge lenken, wie können wir sie ausbilden?
Aber auch strategische Fragen: Wann sind wir Kriegspartei und womit riskieren wir, es zu werden? Kann der Krieg durch Waffenlieferungen noch weiter eskalieren und sich zum Flächenbrand mit Atomwaffeneinsatz ausbreiten? Kann die Ukraine mit diesen Waffen den Krieg gegen Russland gewinnen? Helfen noch mehr Waffen dabei, dass die Waffen schnellstmöglich wieder schweigen? Wie lässt sich das Leid für die Menschen in der Ukraine am schnellsten verhindern, ohne dass noch mehr Leid entsteht? Wie erreichen wir einen Waffenstillstand und sichern wieder einen langfristigen Frieden in der Ukraine und in Europa? Wie können wir einen Diktatfrieden für die Ukraine vermeiden?
Diese Fragen dringen medial nur vereinzelt durch. Gegen das allgegenwärtige Erschrecken und die Wut kommt man mit diesen Fragen nicht an. Stattdessen finden sich immer Experten, Politiker oder Generäle a.D., die den Eindruck vermitteln, man müsste nur schnell handeln, die eigenen Skrupel ablegen, keine Ängste vor Eskalation haben, einfach mal mutig und kreativ sein. Es fehlt nur noch das Gottvertrauen, dass auch in jedem Krieg Militärpfarrer und Kriegsherren zitieren.
Kaum ein Moderator oder Redakteur fragt nach Antworten auf die praktischen und strategischen Fragen. Kaum ein Qualitätsmedium recherchiert, analysiert, prüft das Wahrheitsgehalt und präsentiert es den Mediennutzern. In der Öffentlichkeit wird nur gefordert, dass Kanzler Olaf Scholz endlich sein Schweigen, Zaudern oder überkommene SPD-entspannungspolitischen Attitüden überwindet und schleunigst die Lieferung von Waffen anordnet, die die Ukraine fordert. Und am besten auch noch ständig transparent und medienwirksam offenlegt, was, wann und wohin an Militärgerät geliefert oder nicht geliefert wird, damit es noch berechenbarer für den Kriegsgegner wird.
Symbolpolitik rettet nicht Menschenleben und schafft keinen Frieden
Ich will da nicht mitmachen und in diesen Chor einstimmen, der indirekt lediglich nach Symbolpolitik ruft. Ich kann es auch verstehen, dass Olaf Scholz keine medienwirksamen Auftritte in den Trümmerlandschaften der Ukraine absolviert oder sich nicht dazu drängen lässt, seine Politik den Medien zuliebe auszurichten und auf die zu hören, die am lautesten schreien.
Ich erlebe eine Regierung aus Ministerinnen und Ministern, die unter Führung von Bundeskanzler Olaf Scholz arbeitsteilig verantwortlich arbeiten, sich auch mit Verbündeten und Partnern in der EU und der NATO eng abstimmen und koordiniert vorgehen. Als Teil der NATO werden wir selbstverständlich das vollziehen, was die NATO beschließt – dazu haben wir doch glücklicherweise das Verteidigungsbündnis. Ich vertraue darauf, dass unsere Regierung stets sowohl an die bestmögliche Hilfe für die Ukraine und die Ukrainer als auch an ihren Amtseid denken, den Schaden von Deutschland abzuwenden. Dass sie über ihre Überlegungen, ihre Strategie und den Inhalt der Gespräche, auch der mit Putin, nicht im Liveticker der Welt berichten dürfen, kann ich nachvollziehen. Ich bin mir sicher, dass unter vier Augen und hinter verschlossenen Türen ohne Unterlass gesprochen und verhandelt wird. Wenn all die Bemühungen mit einem Kriegsverbrecher Putin überhaupt eine Chance auf Erfolg haben sollten, dann nur, weil sie eben nicht in Echtzeit mit aller Welt kommuniziert werden.
Wenn Olaf Scholz sich dann vor die Kameras stellt und erklärt, dass die deutsche Bundesregierung in Zusammenarbeit mit anderen Ländern und gut überlegt alles an Hilfe leistet, was derzeit möglich ist, sehe ich erstmal keinen Grund, es sofort in Frage zu stellen. Wenn ich dann keinen Widerspruch der Verantwortlichen hier in Deutschland und bei unseren Verbündeten höre, dass es dem nicht so wäre, dann maße auch ich mir nicht an, besser zu wissen, was noch alles gemacht und geliefert werden sollte. Daran sollten sich auch die zu Militärexperten gewandelten Kommentatoren halten, die vor kurzem noch ausgewiesen kenntnisreiche Virenexperten waren.
Wir sind im Dilemma, ich gebe es zu!
Ich habe kein Problem damit, laut auszusprechen und offen zuzugeben, dass wir mit diesen beschriebenen Dilemmata erst umzugehen lernen müssen. Ich finde das ehrlich und überhaupt nicht ehrenrührig. Im Gegenteil: Das lindert zumindest mein persönliches Ohnmachtsgefühl und die Zweifel.
Niemand von uns weiß heute, wie es weitergehen wird. Wir haben unsere Überzeugungen schon mehrmals revidieren müssen: Von anfangs überhaupt keinen Waffen in die Krisengebiete, dann doch Waffen zur Verteidigung, dann Angriffswaffen, jetzt auch noch schwere Waffen?
Das zeigt, wie sinnlos es sein kann, irgendetwas von Anfang an strikt auszuschließen. Wir können nichts ausschließen, weil wir bei diesen Kriegsgegnern auch mit dem Schlimmsten rechnen müssen. Umso wichtiger, dass an unserer Schaltstelle am roten Knopf nüchtern, kühl und besonnen agierende Menschen sitzen. Ihnen entgeht nicht die Stimmung in der Gesellschaft, auch wir Abgeordnete sprechen in unserer Fraktion hinter verschlossenen Türen miteinander und bringen die Meinungen und Stimmungen aus den Wahlkreisen mit nach Berlin. Auch diese fließen in die Entscheidungen unserer Bundesregierung ein. Aber auch viele andere Zahlen, Daten und Fakten, über die aus guten Gründen nur ein kleiner Personenkreis Bescheid weiß.
Deshalb: Ja, ich mache mich im Bundestag stark dafür, dass wir der Ukraine, sowie den Menschen, die dort ausharren oder geflüchtet sind, weiterhin alle möglichen Hilfen zukommen lassen. Dass wir auch den Menschen, die aus Russland flüchten, helfen und Putin sowie seine Entourage mit möglichst harten und beschleunigten Wirtschaftssanktionen in die Knie zwingen. Und dass wir den NATO Grenzstaaten zu Kaliningrad, Belarus und Russland schnell den notwendigen Schutz mit einem Schutzschirm bieten und sie noch stärker militärisch unterstützen.
Auch fordere ich eine Diskussion darüber ein, wie eine zukünftige europäische Sicherheitspolitik im Frieden aussehen soll, und beteilige mich daran. Woran ich mich dagegen nicht beteilige, ist die militärische Eskalationsdebatte in unseren Medien.
Freundliche Grüße nach Bielefeld,
Zanda Martens