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Werner Simmling
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Frage von Hans-Peter G. •

Frage an Werner Simmling von Hans-Peter G. bezüglich Außenpolitik und internationale Beziehungen

Betr.: Bundeswehreinsatz in Afghanistan

Sehr geehrter Herr Simmling,
Der Bundestagswahlkampf ist ja jetzt schon einige Zeit vorüber. Die Stühle sind zurechtgerückt und die Regierung ist gebildet.
Aber viele neugewählte Abgeordnete scheinen mit den Wahlversprechen, die sie machen mussten, irgenwie nichts davon wissen wollen/dürfen. Vollmundig wurde von Ihrer Partei der Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan im Falle einer Regierungsbeteiligung zugesagt. Vor einigen Tagen nochgab der Vizekanzler vor Beginn der Afghanistan-Konferenz bekannt, dass keine Zugeständnisse in Bezug auf mehr Einsatzkräfte gemacht werden.
Jetzt gibt die Kanzlerin bekannt, dass die Einheiten im Einsatzgebiet verstärkt werden und was noch schmerzlicher für den deutschen Steuerzahler ist, die Geldmittel werden fast verdoppelt auf über €400millionen und von kein Protest. Dies schmerzt.
Ist Ihnen bekannt wie eine Afghanische Familie/Sippe funktioniert?Wissen Sie wieviel bakschisch im Verhältnis bezahlt werden muss, dass vielleicht pro Kopf €1,00 ankommt. Des weitern ist Ihnen bekannt, dass im Kundus die kleinen Bauern immer noch grossteils vom Mohnanbau leben? Genaue Zahlen über die Produktion liegen nirgends vor, jedoch ist gewiss, dass Afghanistan immer noch der grösste Produzent von Rohopium ist.
D. h. für mich, dass unsere Truppen dort sind, um Strukturen zu schützen, die uns in Europa sehr schaden und zudem das Einkommen der Taliban sichert. Erst wenn die Mohnfelder im Norden von Afghanistan vernichtet sind, könnte das, für das Sie einstehen wollen/müssen den Einsatz der Bundeswehr und Polizisten rechtfertigen.
Nun die Frage: wie stehen Sie als Abgeordneter für diesen Wahlkreis zu diesem Thema, was ist Ihre perönliche Meinung?

Freundlichst
Hans-Peter Göttle

"Wer so tut, als bringe er die Menschen zum Nachdenken, den lieben sie. Wer sie wirklich zum Nachdenken bringt, den hassen sie."

Aldous Huxley
engl. Schriftsteller und Kritiker

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Antwort von
FDP

Sehr geehrter Herr Göttle,

vielen Dank für Ihr Schreiben, in dem Sie auf die Situation in Afghanistan eingehen. Der Deutsche Bundestag hat am 26.02.2010 der Veränderung des ISAF-Mandats mit 429 Ja-Stimmen gegen 111 Nein-Stimmen bei 46 Enthaltungen zugestimmt. Dieses Ergebnis belegt, dass die breite parlamentarische Mehrheit hinter dem deutschen Engagement in Afghanistan steht.

Der Bundesregierung ist es in den letzten Monaten in beispielloser Zusammenarbeit der relevanten Ressorts gelungen, einen neuen Ansatz für unser Engagement in Afghanistan zu entwickeln und diesen in die Erarbeitung einer neuen internationalen Afghanistan-Strategie bei der internationalen Konferenz in London erfolgreich einfließen zu lassen. In London wurde eine klare Verschiebung des Schwerpunktes hin mehr zivilem Wiederaufbau in Afghanistan sowie der Stärkung der afghanischen Sicherheitskräfte vereinbart. Die internationale Staatengemeinschaft unterstützt die Regierung des afghanischen Präsidenten Karzai, der sich in seiner Antrittsrede zu mehr afghanischer Eigenverantwortung in fünf Schlüsselbereichen selbst verpflichtet hat: wirtschaftliche Entwicklung, Regierungsführung, Reintegration, Kampf gegen Korruption und Klientelismus sowie Sicherheit. Konkret kündigte Präsident Karzai die Übernahme der vollständigen Sicherheitsverantwortung bis 2014 an. Das Ziel der Bundesregierung ist, in den nächsten vier Jahren die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass mit einer schrittweisen Rückführung der deutschen militärischen Präsenz begonnen werden kann.

Ein wichtiger Erfolgsfaktor für die langfristige Verbesserung der Sicherheitslage in Afghanistan ist der verstärkte Aufbau der afghanischen Polizei und Armee. Zu diesem Zweck hat die Bundesregierung den Anteil der Bundeswehrangehörigen, die sich in Afghanistan mit Ausbildung und Schutz beschäftigen, von 280 auf 1400 erhöht. Hierbei steht nicht nur die Ausbildung der afghanischen Sicherheitskräfte im Fokus, sondern insbesondere auch der Schutz der Zivilbevölkerung sowie unserer zivilen Helfer. Diese Steigerung an deutschem Ausbildungspersonal ist möglich obwohl die Personalobergrenze des Mandates sich lediglich um 850 Soldatinnen und Soldaten auf 5350 erhöht. 350 der 5350 Soldatinnen und Soldaten werden als flexible Reserve eingesetzt. Diese wird nur in bestimmten Situationen (z.B. Parlamentswahlen) eingesetzt, um auf die jeweilige Situation angemessen zu reagieren. Im Bereich der Polizeiausbildung wird Deutschland die Zahl seiner Ausbilder von 120 auf 200 erhöhen. Die Zahl der deutschen Experten im Rahmen der europäischen Polizeiausbildungsmission EUPOL Afghanistan wird von derzeit 45 auf 60 erhöht.

Der Schlüssel für die Befriedung Afghanistans liegt darin, wirtschaftliche und soziale Perspektiven für die afghanische Bevölkerung zu schaffen, um diese gegen eine Radikalisierung durch die Taliban zu immunisieren. Hierzu gehören unter anderem Anstrengungen für einen nachhaltigen Kapazitätsaufbau in der afghanischen Verwaltung und Justiz sowie für die afghanische Zivilbevölkerung. Über einen offenen Politikberatungsfonds sollen dabei zentrale Reformvorhaben der afghanischen Regierung unterstützt werden. Hierfür investiert die Bundesregierung in eine „Entwicklungsoffensive“ in Nordafghanistan. Die Hilfe wird auf die von der afghanischen Regierung als prioritär eingeschätzten Bereichen Landwirtschaft und ländliche Entwicklung, Ausbildung und Kapazitätsaufbau sowie Infrastruktur (Wasser, Transport, Energie) ausgerichtet. Die Bundesregierung hat die jährlichen Mittel für den zivilen Aufbau von 220. Mio Euro auf 430 Mio Euro nahezu verdoppelt.

Ein weiterer unverzichtbarer Punkt für die Stabilisierung Afghanistans ist die Wiedereingliederung von Aufständischen, die weniger aus ideologischen als aus wirtschaftlichen Überlegungen kämpfen. Hierfür wird ein unter gemeinsamer Verantwortung der internationalen Gemeinschaft und der afghanischen Regierung stehendes Reintegrationsprogramm entwickelt. Den Kern des Programms bildet ein Ausbildungs- und Beschäftigungspaket. Der Fokus liegt hierbei auf der Ausbildung im ländlichen Raum sowie der Beschäftigung als Bau- und Landarbeiter für Infrastrukturprojekte, die den integrationsbereiten Aufständischen eine echte, langfristige Perspektive bieten. Die Bundesregierung wird, falls die Vorraussetzungen geschaffen sind, jährlich 50 Mio. Euro zu dem Fonds (Gesamtvolumen: ca.350 Mio. Euro) beitragen. Insgesamt wird die Bundesregierung in die Verlängerung und Veränderung des Mandats bis zum 28.02.2011 circa. 271,5 Mio. Euro investieren.

Auch nach Anpassung der Strategie bleibt die grundsätzliche Begründung für das fortgesetzte Engagement Deutschlands in Afghanistan weiter gültig. Hier sind vier Argumente herauszuheben:

Deutschland hat ein großes Eigeninteresse daran, dass Afghanistan nie wieder zu einem Rückzugsgebiet für international operierende Terrornetzwerke wie Al Qaida wird, wie dies vor dem Sturz der Taliban der Fall war. Die Anschläge vom 11.09.2001 belegen, dass trotz der großen geographischen Distanz zum Hindukusch ein von den Taliban und Al-Qaida dominiertes Afghanistan auch eine erhebliche Bedrohung für Deutschland darstellen würde. Der deutsche Beitrag an ISAF ist daher insbesondere auch als Maßnahme zur Erhöhung der Sicherheit in Deutschland zu betrachten.

Ferner muss die seit dem Sturz der Taliban zu verzeichnende Verbesserung der Menschenrechtssituation in Afghanistan weiter abgesichert werden. Die Schreckensherrschaft der Taliban hatte insbesondere die Verletzung der Rechte von Frauen und Mädchen zur Folge. Seither ist es gelungen, beispielsweise den Zugang von Mädchen zu Schulen deutlich zu verbessern. Ein übereilter Abzug der deutschen und internationalen Truppen würde diese Fortschritte hinsichtlich der Menschenrechtssituation in Afghanistan gefährden.

Überdies wären die regionalen Folgen einer erneuten Machtübernahme der Taliban in Afghanistan unabsehbar. Nicht nur könnte dies die Lage im benachbarten Nuklearstaat Pakistan destabilisieren. Eine Niederlage der afghanischen Regierung könnte sich auch negativ auf die Situation in den Staaten Zentralasiens auswirken.

Daneben steht Deutschland auch vor seinen Partnern und Verbündeten im Wort, bei der gemeinsamen Aufgabe in Afghanistan einen Beitrag zu leisten. Ein einseitiges Ausscheren würde der internationalen Position Deutschlands schaden und seinen politischen Einfluss auf die weitere Entwicklung in Afghanistan schmälern.

Abschließend ist festzustellen, dass die Übergabe in Verantwortung an die afghanische Regierung nur durch eine Veränderung und Verstärkung des Engagements der internationalen Staatengemeinschaft und dabei auch Deutschlands erreicht werden kann. Es gibt weder einen bequemen noch einen ungefährlichen Weg zur Stabilisierung Afghanistans. Jedoch stehen wir in der Verantwortung vor der Bevölkerung Afghanistans, den Bürgerinnen und Bürgern in Deutschland sowie unseren Soldatinnen und Soldaten.

Mit herzlichen Grüßen

Werner L. Simmling