Frage an Ute Granold von Achim S. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
Sehr geehrte Frau Granold,
im Grundgesetz der BRD steht, dass der Wiedervereinigung beider deutscher Staaten die Bildung einer vom Volk beschlossenen Verfassung zu folgen hat.
Haben Sie Informationen darüber, warum das seit 20 Jahren überfällig ist und warum unsere Systempresse sich darüber ausschweigt?
mit freundlichen Grüssen
Achim Stührmann
Sehr geehrter Herr Stührmann,
vielen Dank für Ihre Frage zum Artikel 146 des Grundgesetzes. Dazu ist aus verfassungstheoretischer Sicht Folgendes zu sagen:
Gemäß Artikel 146 verliert das Grundgesetz seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die vom Deutschen Volk in freier Entscheidung beschlossen wurde.
Einen Aufruf, eine derartige Verfassung zu beschließen, enthält das Grundgesetz jedoch nicht. Der ursprüngliche Text der Präambel hat dem Grundgesetz bis 1990 als Aufgabe zu gewiesen, „dem staatlichen Leben für eine Übergangszeit eine neue Ordnung zu geben“. Die Präambel alter Fassung wurde abgeschlossen mit dem Satz „Das gesamte Deutsche Volk bleibt aufgefordert, in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden.“
In der Umformulierung infolge des Einigungsvertrages von 1990 wurde nun vereinfacht und ohne Einschränkungen festgestellt, dass „sich das Deutsche Volk kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses Grundgesetz gegeben“ hat. „Die Deutschen in den Ländern […] haben in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands vollendet. Damit gilt dieses Grundgesetz für das gesamte Deutsche Volk.“
Die Textpassagen dieses Grundgesetz-Artikels werden gelegentlich dahingehend interpretiert, nur eine direkt - also plebiszitär - beschlossene Verfassung erfülle das staatsrechtliche Programm des Grundgesetzes und der provisorische Zustand sei weiterhin gegeben. Darauf zielt ja auch Ihre Frage ab. Mehrheitlich wird in der Staats- und Rechtswissenschaft darin jedoch kein demokratisches Defizit gesehen. Denn das Prinzip der repräsentativen Demokratie, das hier letztlich zur Anwendung kommt, ist qualitativ und demokratietheoretisch nicht mangelhaft, sondern eine graduelle und systematische Grundentscheidung. Deshalb sind besondere plebiszitäre Anforderungen hieraus nicht her leitbar. Die deutsche Bevölkerung hat durch den verfassungsändernden Gesetzgeber der Jahre 1990-94 stets frei und kontinuierlich gesprochen; es „hat im Grundgesetz eine gültige, würdige und respektierte Verfassung gefunden, unter der es ein freies, freiheitliches, demokratisches Leben in einem sozialen und föderativen Rechtsstaat führen kann“. Der belassene Artikel 146 schließt also eine Verfassungsreform mit Aufhebung des Grundgesetzes zwar nicht aus, er verlangt sie aber auch nicht.
Es ist nur scheinbar ein Widerspruch, dass diese gesamtdeutsche Verfassung weiterhin die Bezeichnung „Grundgesetz“ trägt. Das Grundgesetz erfüllt nicht nur alle Funktionen einer Verfassung und hat sich bereits im Laufe der Geschichte der Bundesrepublik als solche gefestigt und bewährt, sondern wird auch den Legitimitätsanforderungen an eine Verfassung gerecht. Die Beibehaltung des ursprünglichen Namens „Grundgesetz“ für die Bundesrepublik Deutschland ist historisch bedingt und lässt sich auch als Respekt vor der Arbeit des Parlamentarischen Rates deuten.
Mit freundlichen Grüßen
Ute Granold