Wie ist Ihre Haltung zur Impfpflicht? Welche Alternativen gibt es zur Impfpflicht? Heißt für die Impfpflicht zu sein, nicht gegen das Grundrecht Artikel1. zu sein?
Sehr geehrter Herr H.,
vielen Dank für Ihre Mail vom 22.03.22 und Ihre Gedanken zur Impfpflicht. Ich sehe die Dinge anders als Sie.
Ich habe mich bereits öffentlich in der Augsburger Allgemeinen für eine allgemeine Impfpflicht für Erwachsene ausgesprochen. Dieser Entscheidung ist ein ausführlicher Abwägungsprozess vorausgegangen, in dem sowohl der Austausch mit Expert:innen und Fachpolitiker:innen als auch persönliche Erfahrungen eine wichtige Rolle gespielt haben. Beides hat mich in meiner Entscheidungsfindung bestärkt, pro Impfung und pro allgemeiner Impfpflicht zu sein.
Gerne nehme ich zu dieser Entscheidung wie folgt Stellung:
Grundrechte werden auch durch eine Impfpflicht nicht abgeschafft, sondern lediglich eingeschränkt. Ein geregeltes Zusammenleben in einer Gesellschaft erfordert oftmals eine Abwägung zwischen widerstreitenden Grundrechtspositionen. So ist auch das Grundrecht der körperlichen Unversehrtheit aus Art. 2 II S. 1 GG nach Art. Art. 2 II S. 3 GG durch ein Parlamentsgesetz einschränkbar und gilt nicht absolut. Voraussetzung ist, dass eine Impfpflicht als staatlicher Eingriff als verhältnismäßig angesehen wird. Dies sehen viele Verfassungsrechtler:innen als gegeben an. (https://www.mdr.de/nachrichten/deutschland/corona-impfpflicht-debatte-pandemie-verfassungsrechtler-100.html; Stand: 09.03.2022) Denn im Artikel 2 des Grundgesetzes ist nicht nur das Recht auf körperliche Unversehrtheit, sondern auch das Recht auf Leben geregelt. Wenn mit einer Impfung das eigene Leben und das Leben anderer geschützt werden kann, dann kann diese Impfung nicht nur moralisch, sondern unter Umständen auch rechtlich geboten sein. Insofern wird selbstverständlich auch auf individuelle Risiken eingegangen. Wer sich aus medizinischen Gründen nicht impfen lassen kann, wird von einer Impfpflicht befreit. Niemand wird durch polizeilichen Zwang geimpft werden.
Entschieden widersprechen möchte ich der oftmals gelesenen Behauptung, dass Impfschäden verschwiegen werden. Der Nürnberger Kodex, welcher als Stellungnahme 1947 vom amerikanischen Militärtribunal erlassen worden ist, stellt klar, dass bei einem Versuch am Menschen die Zustimmung des Probanden erforderlich ist. Vorliegend handelt es sich aber gerade nicht um Experimente am Menschen, da es zur Verträglichkeit und Wirksamkeit sämtlicher in der EU zugelassener Impfstoffe gegen Covid-19 inzwischen bereits eine überwältigende Studienlage gibt und der Impfstoff selbst milliardenfach erprobt ist. Wegen der unglaublich großen Zahl von Impfungen sind auch sehr seltene Nebenwirkungen erkannt und thematisiert worden, zum Beispiel das erhöhte Risiko für Herzmuskelentzündungen bei mRNA-Impfstoffen, besonders bei jungen Männern, oder die Sinusvenenthrombosen bei jüngeren Frauen nach Impfung mit AstraZeneca. Darauf wurde reagiert, die Impfstoffempfehlungen für bestimmte Gruppen angepasst. Weiterhin werden alle Impfnebenwirkungen ans Paul-Ehrlich-Institut gemeldet, untersucht und ausgewertet. Sie fließen in die Sicherheitsberichte ein (https://www.pei.de/DE/newsroom/dossier/coronavirus/sicherheitsbericht-covid-19-impfstoffe-aktuell.html; Stand: 09.03.22). Aber bislang gibt es weiterhin uneingeschränkte Empfehlungen der Impfungen, weil der Nutzen die sehr seltenen und in den meisten Fällen auch gut beherrschbaren Komplikationen weit überwiegt. „Nebenwirkungen, die unerwartet und erst lange Zeit (z. B. mehrere Jahre) nach der Impfung auftreten, sind bei noch keiner Impfung beobachtet worden und sind auch bei den COVID-19-Impfstoffen nicht zu erwarten.“ (https://www.infektionsschutz.de/coronavirus/fragen-und-antworten/alles-zu-den-impfstoffen/nebenwirkungen-und-impfreaktionen/#tab-4683-7; Stand: 09.03.22 ) Diese Erkenntnisse sind Teil der Empfehlungen der STIKO. Der Impfstoff ist insofern auch zugelassen. Eine bedingte Zulassung lässt keinen Schluss auf die Qualität eines Impfstoffes zu, sondern ist ein Instrument der EU, um Zulassungen zu beschleunigen. Und: Nach einem Jahr wird erneut überprüft, ob Hersteller nach wie vor alle Verpflichtungen erfüllen. Verlängerungen wurden bereits beantragt. (https://www.pei.de/DE/service/faq/coronavirus/faq-coronavirus-node.html ; Stand: 09.03.22) Falls es einmal tatsächlich zu einem seltenen Fall eines Impfschadens kommt, so regelt § 60 IfSG die Möglichkeit von Schadensersatz. Menschen, die den mRNA-basierten Impfstoffen kritisch gegenüberstehen, haben jetzt durch Novavax einen weiteren Totimpfstoff zur Verfügung, welcher proteinbasiert ist.
Mir ist zum Thema Nebenwirkungen auch der Brief durch den BKK-Krankenkassenvorstand bekannt. Hierzu liegt mir aber auch eindeutige fachliche Kritik an diesem Schreiben vor. Ja, es gibt Nebenwirkungen und Impfkomplikationen, aber diese existieren nicht in der dargestellten Dimension. Dahingehend werden die Patient:innen ordnungsgemäß vor jeder Impfung per Aufklärungsmerkblatt informiert. Es mag sein, dass Menschen sich nicht wegen „Lappalien“ zum Hausarzt begeben, aber es kann nicht den Tatsachen entsprechen, dass dies alles „lebensbedrohliche Zustände“ wären. Die Kasse unterscheidet ferner nicht zwischen ICD-Codierung und Meldungen an das PEI. Der ICD-Code U12.9, welcher „unerwünschte Nebenwirkung bei der Anwendung von Covid-19 Impfstoffen, nicht näher bezeichnet“ bedeutet, umfasst die gesamte Bandbreite an Impfreaktionen. Dem Schreiben ist nicht zu entnehmen, wie viele Fälle leichter Nebenwirkungen und wie viele meldepflichtige Reaktionen auftreten. Abrechnungsdaten kann man insofern nicht mit Nebenwirkungen gleichsetzen. (https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/132101/Aerger-um-Kassenaussagen-zu-Impfnebenwirkungen; Stand: 09.03.22).
Die Impfung ist vor allem jetzt enorm wichtig und das nicht nur für den Eigenschutz. Damit es zukünftig keine weiteren Wellen im bekannten Ausmaß mehr gibt und das Virus hier heimisch werden kann, soll durch die Impfung eine so starke Immunantwort entwickelt werden, um einen „Immunescape“ und damit das Entstehen von Virusmutationen zu verhindern. Vor allem ältere und immungeschwächte Menschen können trotz Impfung schwer erkranken, denn ihr Immunsystem baut keine so starke Immunantwort auf. Diese Menschen sind darauf angewiesen, dass weniger Viren in der Gesamtbevölkerung zirkulieren. Deshalb ist die Impfung auch für junge, gesunde Menschen wichtig. (https://www.rki.de/SharedDocs/FAQ/COVID-Impfen/gesamt.html; Stand: 09.03.2022). Hier sind Solidarität und Verantwortung für die gesamte Gesellschaft gefragt. Nur so können wir weitere Schulschließungen oder die Verschiebung lebenswichtiger Operationen verhindern. Auch der kürzlich erschienene Bericht des Expert:innenrates geht davon aus, dass die Impfung weiterhin das effektivste Mittel ist, um die Krankheitslast durch Covid-19 zu minimieren (siehe Anhang). Genesene entwickeln gegenüber Geimpften keine bessere Immunität. (https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Genesenennachweis.html; Stand: 09.03.2022).
Dass die Zahl der Impfdurchbrüche steigt, liegt nicht an der vermeintlichen Unwirksamkeit der Impfung. Die Wirksamkeit der Impfstoffe ist sehr hoch, beträgt aber nicht 100 %. Hinzu kommt, dass bei steigender Impfquote auch die Wahrscheinlichkeit eines Impfdurchbruchs steigt und auch von der Zahl aktiver Fälle abhängt (https://www.rki.de/SharedDocs/FAQ/COVID-Impfen/gesamt.html ; Stand: 09.03.2022). Da die Omikron-Variante deutlich leichter übertragbar ist als die vorhergegangene Delta-Variante, steigt hierbei natürlich auch die Anzahl der Impfdurchbrüche. Ein weiteres Argument dafür das Entstehen neuer Varianten zu verhindern.
Wie Sie sich sicherlich vorstellen können, erreichen mich in letzter Zeit einige Zuschriften zum Thema Impfpflicht. Ich habe daher Kenntnis von den Sorgen der Bürger:innen. Seien Sie bitte versichert, es findet keine Missachtung des Grundgesetzes statt. Auch existieren keine geheimen Verschwörungspläne, und eine Zensur der Berichterstattung durch die Presse gibt es ebenfalls nicht. In der dieser Woche werden im Plenum alle Anträge zum Thema Impfpflicht ausführlich beraten und diskutiert.
Mit freundlichen Grüßen
Ulrike Bahr, MdB
Vorsitzende des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend