Warum hat die bayr. Staatsregierung bisher kein Verfahren der abstrakten Normenkontrolle gegen § 20 Abs. 6 Satz 5 EStG eingeleitet?
Sehr geehrte Frau Guttenberger,
Ende 2019 wurde die Verlustrechnungsbeschränkung des § 20 Abs. 6 Satz 5 EStG für Termingeschäfte verabschiedet. Es ist unzweifelhaft, dass die Regelung gegen Art. 3 Abs 1 GG verstösst. Sie führt zu Steuern auf Verluste oder Steuersätzen > 100%.
Beispiel:
Gewinne: 100.000 Euro
Verluste: 120.000 Euro
Steuer: 20.000 Euro
Der BR forderte am 09.10.2020 (incl. BY) die Abschaffung der Regelung, Bund reagierte nicht.
Den ähnl. § 20 Abs. 6 Satz 4 EStG (Aktien) hat der BFH 2020 dem BVerfG vorgelegt, wegen eines Verstosses gegen Art. 3 Abs 1 GG. Spätestens da war klar, dass Satz 5 auch verfassungswidrig ist.
Mit dem ZuFinG sollten o.g. 2 Sätze aufgehoben werden, das Kanzleramt strich es.
Jede Landesregierung hat gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG die Möglichkeit, ein offensichtlich verfassungswidriges Gesetz dem BVerfG vorzulegen. Warum hat die bayr. Staatsregierung das bisher unterlassen und damit die bayr. Steuerzahler dem Gesetz weiter ausgesetzt?
MfG
Sehr geehrter Herr P.,
ich bitte um Verständnis, dass ich hier nur als Abgeordnete antworten kann, da ich nicht Mitglied der Staatsregierung bin.
Meine Recherche hat folgendes ergeben:
Die Beschränkung der einkommensteuerlichen Verrechenbarkeit von Verlusten aus Termingeschäften wurde von bayerischer Seite aus von Anfang an kritisch gesehen. Letztlich wurde im Rahmen eines politischen Kompromisses die Regelung mitgetragen, um weitreichendere Beschränkungen zu verhindern. Weitergehende Restriktionen bei der Berücksichtigung von Verlusten aus dem Verfall von Optionen sowie aus wertlos gewordenen Kapitalanlagen konnten dadurch vermieden werden.
Die Einschätzung, dass die Verlustverrechnungsbeschränkung wegen Verstoßes gegen Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) „unzweifelhaft“ bzw. „offensichtlich“ verfassungswidrig sei, wird nicht geteilt. Die Bayerische Staatsregierung hätte in diesem Fall dem Gesetzgebungsverfahren im Bundesrat keinesfalls zugestimmt. Zwar gibt es in der Fachliteratur zahlreiche kritische Stimmen, aber auch Kommentarmeinungen, die die Norm für verfassungskonform erachten (z. B. Ratschow in Brandis/Heuermann / EStG § 20 / 166. EL Februar 2023).
Sehr geehrter Herr P., entgegen Ihrer Auffassung besteht auch für die Vorschrift des § 20 Abs. 6 Satz 4 EStG, die die Verrechenbarkeit von Verlusten aus der Veräußerung von Aktien regelt, bislang noch nicht fest, ob diese tatsächlich verfassungswidrig ist.
Für die Landesregierung kommt die Einleitung eines abstrakten Normenkontrollverfahrens nur generell bei politisch bedeutsamen Themen oder gesellschaftlich weitreichenden Streitfragen in Betracht.
Für die individuelle Besteuerung haben betroffene Bürgerinnen und Bürger selbst die Möglichkeit, Verfahren zur Prüfung der Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes einzuleiten.
Was die Verfassungsmäßigkeit des § 20 Abs. 6 Satz 5 EstG anbelangt, wurde am 24. Mai 2023 beim Finanzgericht Baden-Württemberg unter dem Aktenzeichen 10 K 1091/23 eine Musterklage eingereicht.
Sollte das Finanzgericht diese Norm für verfassungswidrig halten, wird das Verfahren ausgesetzt, um Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichtes einzuholen.
Soweit zur Information.
Mit freundlichen Grüßen
Petra Guttenberger, MdL