Frage an Nadine Schön von Fred G. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
Sehr geehrte Frau Schön,
Drastische Maßnahmen wie ein harter Lockdown sind in der Pandmie sicherlich für einen begrenzten Zeitraum notwendig. Irgendwann sind aber alle Mittel ausgeschöpft, die man der Bevölkerung einer freiheitlich-demokratischen Gesellschaft zumuten kann und man muss möglicherweise den Begriff der Solidarität (nämlich mit allen sozialen Gruppen) umdenken, weil die sozialen, wirtschaftlichen und letztendlich auch gesundheitlichen Folgen zu groß werden und den Nutzen eines Lockdowns überwiegen könnten. Man muss dann vielleicht mit einer höheren Virusverbreitung leben und sich auf verträglichere Maßnahmen wie flächendeckende Schnelltests, Masken usw. beschränken.
Deshalb meine Fragen:
1. Denken Sie über ein solches Szenario nach, in dem man irgendwann nicht mehr vorwiegend auf epidemiologische Werte schaut und trotzdem stufenweise lockert? Oder sind für Sie persönlich Inzidenzzahlen und die Situation der Krankenhäuser immer das Maß aller Dinge, auch wenn der Lockdown vielleicht 6, 7, 8 Monate dauert und an anderer Stelle teils schwer abzuschätzende Schäden anrichtet?
2. Was tun Sie und Ihre Fraktion, um diese Schäden einzurechnen und mit dem Nutzen eines harten Lockdowns abzuwägen?
3. Setzen Sie sich dafür ein, dass im Bundestag mehr über diese schwierigen Dilemmata diskutiert und auch entschieden wird oder nehmen Sie die aktuelle Dominanz von Kanzleramt und Landesregierungen gegenüber den Parlamenten in Kauf?
Lieber Herr Goldmann,
vielen Dank für Ihre Anfrage zu Entscheidungsbeweggründen für Maßnahmen gegen die Verbreitung des Corona-Virus.
Beim Fokus auf die öffentliche Berichterstattung und Diskussion entsteht schnell der Eindruck, dass die Corona-Politik in erster Linie auf Inzidenzwerte und Neuinfektionen reagiert. Das ist zum Teil richtig, weil das aktuelle Infektionsgeschehen ein wichtiger Leitfaden für entsprechende politische Maßnahmen ist. Dabei werden auch stets v.a. wirtschaftliche und soziale Folgen der einschränkenden Maßnahmen mit einbezogen. Die Debatte um Verschärfungen, Verlängerungen oder Lockerungen von Maßnahmen ist immer ein Spagat zwischen diesen verschiedenen Prioritäten und Wirkungen.
Werkzeuge, die wir für unsere Entscheidungsfindung nutzen, sind klassischerweise in erster Linie Informationsbeschaffung von den verschiedenen betroffenen Stellen. Das heißt, ständig mit den verschiedenen Bevölkerungs-, Berufs- und Interessensgruppen im Austausch zu bleiben, um Erfahrungsberichte darüber zu bekommen, wie die politischen Maßnahmen in der Praxis konkret wirken. Für die Einschätzung der Entwicklung des Infektionsgeschehens selbst stehen wir im Austausch mit medizinischen Experten (Virologen, Epidemologen, etc.) sowie Statistik- und Modellierungsexperten. Letztere sind vor allem für ein weiteres Werkzeug zur Entscheidungsfindung entscheidend: die Szenarienbildung. Mittels vorliegender Daten und Erfahrungswerte zu verschiedensten Variablen werden Prognosen gebildet, wie sich die Ausbreitung des Virus unter bestimmten Bedingungen entwickelt. Dabei leistet vor allem das RKI einen enorm wertvollen Beitrag.
Die Entscheidungsvorbereitung in der Corona-Pandemie ist sehr evidenzbasiert. Der Austausch mit Experten aus Wissenschaft und Forschung sowie aus Wirtschaft und Zivilgesellschaft ist eng. Die politische Entscheidung zur Steuerung der Pandemie wägt diese Informationen sorgfältig ab. Das gilt sowohl für die Ministerpräsidentenkonferenzen als auch für die Befassung in den Parlamenten. Die Einschätzung, wie dabei verschiedene Nutzen und Kosten gegeneinander abgewogen werden müssen, ist auch eine Frage des eigenen Wertekonstrukts, der politischen Prioritäten, der Situation im eigenen Bundesland, usw. Deshalb bleibt es entscheidend, dass wir unsere Entscheidungen und die Beweggründe dahinter genau erklären und gesellschaftlich weiterhin zur Diskussion stellen. Das entspricht meinem Verständnis von Demokratie und Pluralismus.
Ich hoffe, damit Ihre Fragen beantwortet zu haben.
Bleiben Sie gesund!
Herzliche Grüße
Nadine Schön