Frage an Monika Grütters von Anton H. bezüglich Kultur
Sehr geehrte Frau Grütters,
mich würde interessieren, wie Sie es einschätzen, dass einerseits auf der Welt Kinder verhungern und in kriegerischen Auseinandersetzungen, auch mit deutschen Waffen und Rüstungsgütern, viele Menschen getötet werden und andererseits im Land des exzessiven Waffen- und Rüstungsexportes Kindern und Jugendlichen vorgegaukelt wird, dass man zur gleichen Zeit "Kultur" betreiben könne, vollkommen leidvergessen für das Leid vieler leidender und getöteter Kinder.
Wäre es nicht wirkliche Kultur, wenn man Kindern und Jugendlichen zeigen würde, dass man so lange keine Museen, Bildergalerien und Konzerte besuchen kann, wenn gleichzeitig weltweit Kinder durch Waffen und Kriegsgerät, welche von der eigenen Nation hergestellt und exportiert wurden, umkommen?
Zu Zeiten der Ostermäsche hatten Menschen von Werten geprägte Ziele und handelten danach. DAS verlangt meiner Meinung nach Kultur. Ignorantes Wegsehen und Verdrängen ist meines Erachtens Unkultur, die Kindern und Jugendlichen so vorgelebt wird.
Wie stehen Sie dazu?
Vielen Dank!
Sehr geehrter Herr H.,
vielen Dank für Ihre Frage. Sie sprechen ein schwieriges Thema an, das viele Menschen, auch Künstlerinnen und Künstler sowie Intellektuelle, seit langem bewegt. Vor mehr als 60 Jahren hat Theodor Adorno mit seinem berühmten Diktum, dass es barbarisch sei, nach Auschwitz noch Gedichte zu schreiben, bereits eine Debatte ausgelöst, die sich mit der Frage beschäftigte, wie künstlerisches Schaffen im Bewusstsein von Folter, Mord und Unglück vieler Menschen überhaupt möglich sein kann.
Ich glaube, dass der Widerspruch, den Sie in Ihrer Frage aufwerfen, nicht so klar ist, wie er auf den ersten Blick scheinen mag. Denn in Kunst und Kultur finden sich häufig jene Menschen repräsentiert, die in anderen gesellschaftlichen Zusammenhängen keine Stimme haben. Ihr Leid wird von Künstlern und Intellektuellen eben nicht vergessen, sondern häufig sind sie es, die diese Leiden ins Bewusstsein der Gesamtgesellschaft rücken. Exemplarisch dafür darf ich den Film „Fuoccoammare“ nennen, der der Situation geflüchteter Menschen aus Afrika auf und um die Insel Lampedusa gewidmet ist. Auch das Theaterstück „Hate Radio“ von Milo Rau, das sich dem Völkermord in Ruanda widmet, ist ein solches Projekt.
Aber nicht nur in der künstlerischen Repräsentation, sondern auch in der musealen Darstellung und Forschung findet das vermeintlich gesellschaftlich „vergessene“ Leid vieler Menschen Berücksichtigung und Anerkennung. Beispielhaft kann dafür zum Beispiel die aktuelle Debatte um koloniale Sammlungsbestände stehen, bei der die Beschäftigung und Auseinandersetzung auch mit den Greuel kolonialer Vergangenheit eine wichtige Rolle spielen.
Ich glaube deshalb, dass Kunst und Kultur gerade nicht dem „Wegsehen“ und dem „Verdrängen“ Vorschub leisten. Vielmehr bieten sie die Möglichkeit, Aufmerksamkeit für das Leid vieler Menschen überall auf der Welt zu schaffen und die Menschen für diese Themen zu sensibilisieren.
Das ist auch ein Grund, warum ich mich stets für die Unabhängigkeit von Kunst und Kultur einsetze. Kunst muss nicht gefallen und unterhalten, sie darf und muss bisweilen unangenehm sein, sie muss verstören und auf Missstände aufmerksam machen. Eine so verstandene Kunstfreiheit ist ein guter Schutz vor gesellschaftlicher Trägheit und Selbstzufriedenheit und aus meiner Sicht gerade deshalb unverzichtbar.
Mit freundlichen Grüßen,
Monika Grütters