Frage an Matthias W. Birkwald von F. H. bezüglich Wissenschaft, Forschung und Technologie
Sehr geehrter Herr Birkwald,
die Universität zu Köln ist - zusammen mit den Unikliniken - der größte Arbeitgeber im Kölner Süden.
Wo sehen Sie Reformbedarf im Hochschul- und Wissenschaftssystem, und zwar entlang der folgenden Punkte:
1) Studierende
2) wissenschaftlicher Nachwuchs / Attraktivität und Planbarkeit wissenschaftlicher Laufbahn
3) akademischer Mittelbau
4) Professorenschaft
5) Forschung
6) Lehre
7) Verwaltung
Was kann und sollte der Bund hier konkret reformieren?
Wie unterscheidet sich Ihre Position bzw. die Position Ihrer Partei in den genannten Punkten konkret von der politischen Konkurrenz?
Freundliche Grüße
Sehr geehrter Herr H.,
haben Sie vielen Dank für Ihre Frage.
Ich sehe den Reformbedarf im Hochschul- und Wissenschaftssystem wie folgt:
1) Studierende
Das Studium ist von Leistungsdruck und Zeitdruck geprägt. Viele werden durch Zugangshürden ausgeschlossen. Das ist politisch gewollt. Es muss aber nicht so bleiben. DIE LINKE setzt sich für eine soziale, demokratische, offene und solidarische Hochschule ein. Zugangs- und Zulassungsbeschränkungen wie Numerus Clausus, Auswahlgespräche, IQ-Tests usw. müssen überwunden werden. Wir schlagen dazu ein Hochschulzulassungsgesetz vor. Die Zugangsmöglichkeiten für Menschen ohne Abitur müssen verbessert werden. Der Zugang zum Master muss für erfolgreiche Bachelor-Absolventen zulassungsfrei sein. Jegliche Form von Studiengebühren lehnen wir ab. Das BAföG muss an die Lebenswirklichkeit angepasst werden und die Ausbildung umfassend finanzieren. Wir setzen uns für ein elternunabhängiges, rückzahlungsfreies BAföG in Höhe von 1.050 Euro netto ein. Der BAföG-Fördersatz muss regelmäßig und automatisch an die steigenden Lebenshaltungskosten angepasst werden. Altersgrenzen wollen wir abschaffen und die Bezugsdauer an die reale durchschnittliche Studiendauer anpassen. Darüber hinaus brauchen wir Investitionen in die soziale Infrastruktur. Die Gemeinschaftsaufgabe Hochschulbau muss wieder im Grundgesetz verankert und ein Sonderprogramm für den Neubau von Wohnheimplätzen gestartet werden.
2) wissenschaftlicher Nachwuchs / Attraktivität und Planbarkeit wissenschaftlicher Laufbahn
DIE LINKE setzt sich bereits seit Langem für die Abschaffung eines Sonderbefristungsrechts in der Wissenschaft ein. Aufgrund des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes sind an den Hochschulen mittlerweile über 90 Prozent des wissenschaftlichen Personals befristet beschäftigt.
Um diesen Zustand zu beenden, will DIE LINKE zum ersten den Grundsatz "Dauerstellen für Daueraufgaben" durchsetzen. Befristete Beschäftigungsverhältnisse laufen der Erfüllung von Daueraufgaben entgegen.
Zum zweiten will DIE LINKE ein Anreizprogramm auf Bundesebene auflegen, mit dem die Einrichtung von bis zu 100.000 unbefristeten Stellen gefördert wird. Die Hochschulen (auch Fachhochschulen) sollen für die Einrichtung einer neuen unbefristeten Stelle im Wissenschaftsbereich zwei Jahre lang jeweils 10.000 Euro erhalten.
Der dritte Baustein für die Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses ist die bedarfsdeckende Finanzierung der Hochschulen. Seit mehreren Jahrzehnten sind die Hochschulen in Deutschland unterfinanziert. Diese Lage hat sich durch die stark steigende Studierendenzahl weiter verschlechtert. Die Maßnahmen zur Kompensierung dieses Anstiegs, vor allem die erste Säule des Hochschulpakts 2020, waren nicht ausreichend, um diese Entwicklung auszugleichen.
Zudem wurden diese Maßnahmen nur für einen begrenzten Zeitraum gewährt. Dies hat die bereits prekären Arbeitsverhältnisse an den Hochschulen weiter verschlechtert. Aus diesem Grund will DIE LINKE die erste Säule des Hochschulpakts 2020 auf dem Niveau von 2017 verstetigen und ein ergänzendes Bundesprogramm zur Verbesserung der Betreuungsquoten an den Hochschulen auflegen.
3) akademischer Mittelbau
Gute Wissenschaft braucht gute Arbeit. Dazu muss der wissenschaftliche und nichtwissenschaftliche Unter- und Mittelbau gestärkt werden. Das Sonderbefristungsrecht für wissenschaftliches Personal unterhalb der Professur wollen wir abschaffen. (siehe auch Frage 2).
4) Professorenschaft
Für DIE LINKE war das von Bund und Ländern beschlossene Programm zur Schaffung von 1.000 Tenure-Track-Professuren eine Enttäuschung. Grundsätzlich wird es dem Bedarf im Hochschulsystem nicht gerecht. Der Wissenschaftsrat hatte vorgeschlagen mehr als sechsmal so viele Stellen für Juniorprofessor*innen zu schaffen. Vor allem hat uns aber enttäuscht, dass in dem Programm keine Förderung alternativer Karrierewege jenseits der Professur aufgenommen wurden. Das Programm dient vor allem dem Erhalt der überkommen Strukturen an den deutschen Hochschulen, in deren Folge der größte Teil der dort beschäftigten Wissenschaftler*innen in einem starken Abhängigkeitsverhältnis gegenüber dem Lehrstuhlinhaber steht. Ein eigenverantwortliches und eigenständiges wissenschaftliches Arbeiten verbunden mit einer unbefristeten Stelle muss für wissenschaftliche Beschäftigte an Hochschulen auch ohne Professur möglich sein.
5) Forschung
Kooperationsvereinbarungen, Sponsoring und sonstige Verträge zwischen öffentlichen Hochschulen und privaten Unternehmen und Stiftungen müssen offengelegt werden. Um urheberrechtlich geschützte Werke für Zwecke der Bildung, Forschung und Lehre frei zugänglich zu machen, wollen wir eine allgemeine Ausnahme (Wissenschaftsschranke) für Bildung und Forschung im Urheberrecht verankern. Das Zweitveröffentlichungsrecht muss von den engen einschränkenden Vorgaben befreit werden, damit die Nutzungsrechte nicht exklusiv durch Verlagsunternehmen angeeignet werden können. Informationen und wissenschaftliche Erkenntnisse, die mit Steuermitteln erarbeitet wurden, müssen Allen zur Verfügung stehen (open access). Wir wollen Forschung für Frieden statt für Krieg und Rüstungsindustrie und wir fordern die Verankerung von Zivilklauseln an allen Hochschulen und Wissenschaftseinrichtungen. Forschung und Wissenschaft müssen einen Beitrag gegen sozialen Spaltungen leisten, und zu Lösungen der Probleme um den Wandel von Klima und Umwelt beitragen. In diesem Sinne wollen wir die milliardenschwere Innovations- und Technologieförderung des Bundes strategisch ausrichten. Neben den technischen sind dabei besonders soziale Innovationen wichtig.
6) Lehre
Prekäre Arbeit, Lehre zu Dumping-Vergütung und Ausbeutung von Lehrbeauftragten und nichtwissenschaftlichen Beschäftigten lehnen wir ab. Die Honorare für Lehraufträge wollen wir erhöhen, sie müssen auch die Vor- und Nachbereitung abdecken. Lehraufträge sollen das Lehrangebot ergänzen. Lehranteile in Forschung- und Qualifizierungsverträgen müssen begrenzt werden. Zentrale Lehraufgaben müssen auf festen, unbefristeten Stellen geleistet werden. Die Anzahl von Lehraufträgen wollen wir zugunsten von regulären Arbeitsverhältnissen verringern.
Den Qualitätspakt Lehre will DIE LINKE durch eine über den Hochschulpakt 2020 hinausgehende langfristige Beteiligung des Bundes an der Grundfinanzierung der Hochschulen ersetzen. Ziel dieses Programms ist eine Reduzierung der Betreuungsquote von Studierenden pro wissenschaftlichem Beschäftigten (Vollzeitäquivalent) auf 13 zu eins, wie sie bereits in den 1980er Jahren bestand. Die Hälfte dieser Kosten - ca. fünf Milliarden Euro - soll der Bund tragen, die andere Hälfte die Länder. In den Folgejahren ist ebenso eine jährliche Steigerung von drei Prozent vorzusehen, um die Preissteigerung auszugleichen.
7) Verwaltung
Die Hochschulen werden zu einem wesentlichen Teil durch nichtwissenschaftliches Personal in der Verwaltung, dem Gebäudemanagement und dem Forschungsbetrieb mitgetragen. Wer von Arbeitsbedingungen an Universitäten spricht, darf diesen Teil der Beschäftigten nicht vernachlässigen. Sie sind gleichermaßen von den Reformen der vergangenen Bundesregierungen benachteiligt worden. Zur Demokratisierung der Hochschulen gehört für uns auch, dass Hochschulgremien paritätisch besetzt werden, so dass alle Statusgruppen gleich stimmberechtigt vertreten sind.
Ich hoffe, Ihnen zu Ihrer Zufriedenheit geantwortet zu haben.
In diesem Sinne und mit herzlichen Grüßen,
Ihr Matthias W. Birkwald