Frage an Markus Kurth von Daniel R. bezüglich Soziale Sicherung
Sehr geehrter Herr Kurth,
wir sind eine Wählergemeinschaft aus Berlin Prenzlauer Berg.
Wir möchten Ihnen persönlich und als Mitglied der Grüne-Fraktion im BT-Ausschuss Arbeit und Soziales folgende Frage stellen:
Wie kann es eigentlich sein, dass Mitbürger auf ihren selbstverdienten Lohn über 40% Sozialversicherungsbeiträge zahlen müssen, und damit teilweise unter das Existenzminimum gedrückt werden.
Und deshalb allein durch die Zahlungspflicht der SV-Beiträge selbst zu Hartz-IV-Berechtigten werden.
Können Sie uns die Logik dieser Systematik erklären? Denken Sie, dass diese Abgaben auf das Existenzminimum mit dem Grundgesetz vereinbar sind?
Der Vizepräsident des Bundestages, Herr Dr. h.c. Wolfgang Thierse hat freundlicherweise unsere Frage als erster beantwortet.
Wir würden gerne auch Ihre Antwort auf unserer homepage www.uwp-berlin.de und www.arm-trotz-arbeit.de für die interessierte Öffentlichkeit zugänglich machen.
Bitte zögern Sie also nicht, unsere zugegebenermaßen nicht ganz einfache Frage zu beantworten.
Vielen Dank
Daniel Röttger
Geschäftsführer der UWP
Sehr geehrter Herr Röttger,
vielen Dank für Ihre Anfrage vom 15.04.2008. Leider komme ich erst jetzt dazu sie zu beantworten.
Ich stimme Ihnen mit Blick auf die Belastung der unteren Einkommen mit Sozialversicherungsbeiträgen grundsätzlich zu. Insbesondere im unteren Einkommenssegment sind es in Deutschland die hohen Lohnnebenkosten, die mehr Arbeitsplätze gerade für Geringqualifizierte im Wege stehen und die Schwarzarbeit florieren lassen. Bündnis 90/Die GRÜNEN wollen die Voraussetzungen dafür schaffen, dass im Handwerk, bei Dienstleistungen und in vielen anderen Bereichen neue Arbeitsplätze entstehen können und haben bereits im Jahre 2006* mit dem Progressivmodell die Senkung der Lohnnebenkosten im unteren Einkommensbereich vorgeschlagen. So entstehen neue Chancen für die, die bisher dauerhaft vom Arbeitsmarkt ausgegrenzt waren und die Nettoeinkommen der Geringverdiener steigen. Zugleich sind niedrigere Lohnnebenkosten bei einfachen Tätigkeiten ein geeignetes Mittel zur Eingrenzung der Schwarzarbeit, durch die unserer Volkswirtschaft Milliardeneinahmen entzogen werden.
Erst ab einem Bruttoeinkommen oberhalb von 2.000 EUR soll die volle Last der Sozialversicherungsabgaben von heute rund 40% (Arbeitgeber- und Arbeitnehmeranteil) anfallen. Für alle Einkommen bis 2.000 EUR sollen die Beitragssätze langsam ansteigen. Bei einem Bruttoeinkommen von 1.000 EUR sollen Arbeitgeber und Arbeitnehmer nach unseren Vorstellungen so zum Beispiel nur je 14% Beiträge, zusammen also 28% entrichten. Durch die Verringerung der Abgaben könnten Arbeitgeber mehr Arbeitsplätze und neue Dienstleistungen anbieten. Um das möglichst einfach zu gestalten, könnte der ermäßigte Arbeitnehmerbeitrag in Form einer Steuergutschrift gewährt werden.
In unserem Progressiv-Modell sind alle ArbeitnehmerInnen *Mitglieder* der Kranken-, Renten-, Pflege- und Arbeitslosenversicherung. Dabei können Mitnahmeeffekte durch eine Mindestarbeitsstundenzahl als Voraussetzung für die Aufnahme in die Gesetzliche Krankenversicherung vermieden werden. Die bisherige Minijob-Regelung würde in unserem Modell aufgehen. Bisherige MinijobberInnen wären in Zukunft vollständige Mitglieder in der Sozialversicherung. Damit wäre ein entscheidender Nachteil der jetzigen Minijob-Regelung beseitigt, nämlich die mangelhafte soziale Absicherung.
Zur Kompensation der über die zusätzlichen Beschäftigungseffekte entstehenden Mehreinnahmen hinaus entstehenden Finanzierungslücke ist eine *Gegenfinanzierung aus Steuern* notwendig. Diese Umfinanzierung der sozialen Sicherheit von Abgaben hin zu Steuern ist jedoch beschäftigungspolitisch notwendig und steuerpolitisch möglich. Insbesondere die skandinavischen Länder haben uns vorgemacht, dass man mit stärker steuerfinanzierten Sozialsystemen Beschäftigung aufbauen kann.
Auf dem Weg zur weiteren Entkopplung der Finanzierung der sozialen Sicherung von den Lohneinkommen hin zu einer stärkeren Steuerfinanzierung, könnte neben der Progression ein zweites Element unseres Steuersystems auf die Sozialabgaben übertragen werden. So wie es ein steuerfreies Existenzminimum gibt, könnte auch ein Freibetrag bei den Sozialabgaben schrittweise eingeführt werden. In Abhängigkeit zur Höhe des Freibetrages müssen allerdings zusätzliche Steuereinnahmen mobilisiert werden. Die zielgenaue Absenkung der Sozialabgaben kann dort Arbeit schaffen, wo sie besonders fehlt. Ich hoffe, mit diesen Ausführungen Ihre Frage hinreichend beantwortet zu haben.
Mit freundlichen Grüßen
Markus Kurth