Frage an Markus Kurth von Luis Alberto Fernández V. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
Sehr geehrter Herr Kurth,
ich meine, daß Sie durch
Ihre Antwort vom 24.02.10 auf meine Fragen vom 20.02.10 nicht eingegangen sind. Die Grundsicherungsrente ist eine SGB XII-Leistung, es gibt aber andere Formen der Sozialhilfe. Ich meine, daß im Vergleich der erwerbstätigen Menschen aus SGB XII mit denen aus SGB II eine Benachteiligung von Behinderten auftritt. Das drückt sich vor allem in den unterschiedlichen Freibeträgen aus. Nach §§ 82(3) sowie 88(2) SGB XII liegt die Freibetragsgrenze bei ca. 85,00 € [über den Daumen gerechnet], während sie nach §§ 11, 30 und 47 SGB II bei 100,00 € liegt. Hinzu kommt nach § 30 SGB II ein abzusetzender Betrag von 20% des Erwerbs über die 100,00 € hinaus, welchen es beim Freibetrag aus §§ 82(3) und 88(2) SGB XII nicht gibt. Der Vergleich ist also zwischen den Erwerbstätigen beider Gesetzesbücher zu vollziehen.
Laut einem Bericht der Berliner Zeitung vom 15.10.2009 soll der SGB II-Freibetrag erhöht werden. Für eine ähnlich lautende Erhöhung der SGB XII-Freibeträge ist nichts geplant.
Das sieht wie eine Benachteiligung der Behinderten aus, die SGB XII-Leistungen beziehen. Gründe für diese Besserstellung von SGB II-Leistungsbeziehern sind nicht nachvollziehbar. Sehen Sie dennoch keine Verletzung des Art. 3(3) Satz 2 GG? Oder setzen Sie Art. 3(3) Satz 2 GG außer Kraft, indem Sie behaupten, daß sich keine Lebenslage mit einer anderen vergleichen läßt?
Was Ihre Pläne zur Aufnahme der Behinderten in den allgemeinen Arbeitsmarkt angeht, so erschrecken Sie mich. Halten Sie die Gesellschaft sowie die Wirtschaft für so toleranzfähig, daß Ihr Vorhaben, Behinderte im Wege der Organisation eines „Himmelfahrtskommandos“ in den allgemeinen Arbeitsmarkt zu entsenden, realistisch und erfolgsversprechend ist? Nehmen Sie dieses Ziel in Angriff, nur damit sich Behinderte mit Nichtbehinderten gleichberechtigt „fühlen“ können?
Was steht noch auf dem Plan der Behindertenpolitik der Fraktion der Grünen?
Mit freundlichen Grüßen
Luis Fernández Vidaud
Sehr geehrter Herr Vidaud,
alle Leistungen des XII. Buches des Sozialgesetzbuches (SGB) sind Leistungen der Sozialhilfe. Sie haben aber sicherlich Recht, dass nicht alle Menschen, die SGB-XII-Leistungen erhalten „erwerbsunfähig“ sind. So können auch Menschen mit einer Behinderung, Leistungen der Eingliederungshilfe nach dem Sechsten Kapitel des SGB XII erhalten und dennoch „erwerbsfähig“ sein. In meiner Antwort an Sie vom 24.02.2010 bezog ich mich ausschließlich auf die Leistungen des Vierten Kapitels, die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung.
Wenn es um die Zuverdienstmöglichkeiten erwerbsfähiger Personen geht, die Leistungen des Fünften bis Neunten Kapitels des SGB XII beziehen, ziehen Sie richtiger Weise § 88 Abs. 2 SGB XII heran. Dieser Absatz findet allerdings nur bei stationären Hilfen nach dem Fünften bis Neunten Kapitel Anwendung und auch nur, sofern das Einkommen bzw. der Zuverdienst unter der Einkommensgrenze liegt. (Liegt das Einkommen hingegen über der Einkommensgrenze nach § 85 SGB XII ist § 87 SGB XII einschlägig.) Nach § 88 Abs. 2 SGB XII ist ein Einkommen in Höhe von einem Achtel des Eckregelsatzes (legt man 359 Euro zugrunde entspricht dies rund 45 Euro) zuzüglich 25% des diesen Betrag übersteigenden Einkommen aus der Beschäftigung anrechnungsfrei. Diese Regelung gilt nicht ausschließlich für Menschen mit Behinderungen, sondern für alle LeistungsempfängerInnen der Hilfen zur Gesundheit (Fünftes Kapitel), der Eingliederungshilfe (Sechstes Kapitel), der Hilfe zur Pflege (Siebtes Kapitel), der Hilfe zur Überwindung besonderer sozialer Schwierigkeiten (Achtes Kapitel) sowie der Hilfen in anderen Lebenslagen (Neuntes Kapitel).
Ein Vergleich von Empfängerinnen und Empfängern der Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II) mit den Empfängerinnen und Empfängern der stationärer Leistungen des Fünften bis Neunten Kapitels des SGB XII, die gleichzeitig ein Einkommen unterhalb der Einkommensgrenze haben, zeigt die grundlegende Problematik der Zuordnung einzelner Kapitel in das System der Fürsorge bzw. der Nachrangigkeit nach dem SBG XII. Ich bin der Auffassung, dass zumindest die Eingliederungshilfe für behinderte Menschen als echter Nachteilsausgleich, eher noch als Mittel zur Herstellung selbstbestimmter Teilhabe unabhängig von Einkommen und Vermögen zur Verfügung gestellt werden muss. Wäre dies der Fall, würden erwerbsfähige Empfängerinnen und Empfänger stationärer Leistungen der Eingliederungshilfe mit einem Einkommen unterhalb der Einkommensgrenze gleichzeitig anspruchsberechtigt gemäß des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch (Kosten der Unterkunft und Arbeitslosengeld-II-Leistungen). Die Zuverdienstregelungen des SGB II würden auch für diesen Personenkreis gelten.
Sehr geehrter Herr Vidaud, Sie beschreiben zutreffend ein Problem, das auch wir von der Grünen Bundestagsfraktion beheben möchten. Bezüglich unserer Vorstellungen eines inklusiven Arbeitsmarktes bedürfte es weiterer detaillierter Beschreibungen. Für solche Ausführungen ist hier nicht der richtige Ort, daher nur in Kürze: Wir von der Grünen Bundestagsfraktion möchten möglichst vielen Menschen mit Assistenzbedarf eine Beschäftigung auf dem allgemein Arbeitsmarkt ermöglichen. Hierfür gibt es bisher gute Ansätze und Instrumente (Persönliches Budget für Arbeit, Unterstützte Beschäftigung, Integrationsämter, …), die von der jetzigen und der vorherigen Bundesregierung allerdings wenig kohärent und zielführend verfolgt wurden. Wir möchten Leistungen, die jetzt überwiegend als Sachleistungen an Leistungserbringer ausgegeben werden, personengebunden in Form von Lohnkostenzuschüssen, Arbeitsassistenten, usw. ausgeben. Diese Leistungen müssen selbstverständlich dauerhaft und verlässlich sein. Dies heißt im Umkehrschluss mit Sicherheit nicht, dass wir den Geschützten Arbeitsmarkt von heute auf morgen abschaffen möchten. Letzterer hat seine Berechtigung und wird für einen bestimmten Personenkreis bis auf Weiteres alternativlos bleiben.
Wir von der Grünen Bundestagsfraktion - und nun komme ich zu Ihrer letzten Frage - werden auch in dieser Wahlperiode einige Schwerpunkte in der Politik für Menschen mit Behinderungen setzen. Dies sind die Bereiche "gesundheitliche Versorgung", "Teilhabegesetz für Menschen mit Behinderungen", "personenzentrierte Hilfen", "Gleichbehandlung", "Bildung" sowie der Themenkomplex "Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen". Für freuen uns auf den Dialog mit Ihnen.
Mit freundlichem Gruß
Markus Kurth