Frage an Markus Kurth von Luis Alberto Fernández V. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
Sehr geehrter Herr Abgeordneter,
nach dem SGB II – hier: §§ 11, 30 und 67 SGB II – erhalten SGB-Leistungsbezieher einen monatlichen Freibetrag von 100,00 € für das zusätzliche Einkommen, das sie durch Arbeit erzielen können, während der Freibetrag für Behinderte, die Leistungen nach dem SGB IX und dem SGB XII beziehen, Anspruch auf einen Freibetrag nach §§ 82(3) und 88(2) SGB XII haben, der weit unter 100 € monatlich liegt, sofern die dort vorhandene Berechnung angewandt wird.
Ist Art. 3(3) Satz 2 GG auch nicht als Leistungsgewährungsrecht in Verbindung nicht nur mit dem Sozialstaatsprinzip, sondern darüberhinaus unter Berücksichtigung des Rechtsstaatsprinzips sowie der Eigentumsgarantie anzusehen, wie dies der Fall ist mit der Menschenwürde (vgl. Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 09.02.2010 unter 1 BvL 1/09, 1 BvL 3/09 und 1 BvL 4/09, hier: Leitsätze 1 bis 3)?
Wenn dem so ist, dann müßte der Freibetrag für Behinderte dem gleichen Betrag entsprechen wie der eines SGB II-Leistungsbezieher. Läßt sich das irgendwie in der Gesetzgebung bewerkstelligen?
Sehen Sie auch die Möglichkeit, daß der Behinderte für die Aufrechterhaltung seiner Arbeitskraft, für die Entgegenwirkung seiner Benachteiligung sowie für die ganzheitliche Entwicklung seiner Persönlichkeit und Fähigkeit sowohl innerhalb als außerhalb des industriellen Lebens einen zusätzlichen Leistungsgewährungsanspruch geltend machen darf, der sich auch gesetzlich kodifizieren läßt (vgl. Leitsatz 4 des o.a. Urteils: „Der Gesetzgeber kann den typischen Bedarf zur Sicherung des menschenwürdigen Existenzminimums durch einen monatlichen Festbetrag decken, muss aber für einen darüber hinausgehenden unabweisbaren, laufenden, nicht nur einmaligen, besonderen Bedarf einen zusätzlichen Leistungsanspruch einräumen.“).
Was wird Ihre Fraktion tun, um diesen Teil der Grundrechte umzusetzen?
Für eine qualifizierte, detaillierte Antwort wäre ich Ihnen äußerst verbunden.
Mit freundlichen Grüßen
Luis Fernández Vidaud
Sehr geehrter Herr Vidaud,
ich kann den Unmut, der Ihrer Frage zu Grunde liegt, nachvollziehen. Rein rechtlich stellt sich die Situation allerdings wie folgt dar:
Man erhält die volle Erwerbsminderungsrente nur dann, wenn man nicht in der Lage ist mindestens drei Stunden am Tag zu arbeiten. Als Mensch mit Behinderung hat man die Möglichkeit in einer Werkstatt für behinderte Menschen zu arbeiten. Die Erwerbsminderungsrente nach dem Vierten Kapitel des SGB XII hat neben seiner Funktion den Lebensunterhalt zu sichern die Aufgabe einen Ausgleich für die fehlende Erwerbsfähigkeit herzustellen. Aus diesem Grunde ist es nachvollziehbar, dass Bezieher einer Rente wegen Erwerbsminderung nur in begrenztem Umfang hinzuverdienen können. Sind Menschen in der Lage länger als drei Stunden am Tag zu arbeiten, entfällt die Anspruchsberechtigung auf die volle Erwerbsminderungsrente. Man kann daher nicht von einer Ungleichbehandlung zwischen erwerbsfähigen und nicht-erwerbsfähigen Menschen sprechen, da die beiden Systeme SGB II und SGB XII auf Grund der unterschiedlichen Definitionen der Erwerbsfähigkeit nicht vergleichbar sind.
Lassen Sie mich dennoch grundsätzlich etwas zur Einteilung zwischen erwerbsfähig und nicht-erwerbsfähig sagen.
Wir wissen alle, dass die allermeisten Menschen in Werkstätten für behinderte Menschen länger als drei Stunden am Tag arbeiten. Wir von Bündnis 90/Die Grünen sind der Auffassung, dass bei entsprechender dauerhafter Unterstützung viel mehr Menschen mit Behinderungen als heute auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt arbeiten könnten. Hier möchte ich nur die Unterstützte Beschäftigung (in ihrem ursprünglichen Sinne), Persönliche Assistenz, Lohnkostenzuschüsse oder Integrationsfirmen als einige Stichworte nennen. Unser Ziel ist ein inklusiver Arbeitsmarkt, in dem sich die Frage der unterschiedlichen Zuverdienstmöglichkeiten so gar nicht mehr stellen würde. Wir haben hier detaillierte Konzepte und Ideen, die Ihnen voraussichtlich bereits vorliegen.
Nun zu Ihrer Frage nach dem Bundesverfassungsgerichtsurteil. Hier möchte ich Sie bitten die Dinge nicht durcheinanderzubringen. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat sich zur Frage des Zustandekommens des sozio-kulturellen Existenzminimums geäußert. Ein „zusätzlicher Leistungsgewährungsanspruch“ besteht nach Auffassung des Gerichts nur bei „unabweisbaren, laufenden, nicht nur einmaligen Bedarfen“.
In der Debatte um die Konsequenzen aus dem Urteil habe ich mich in den letzten Tagen sehr ausführlich geäußert. Die Informationen finden Sie auf meiner Homepage unter www.markus-kurth.de .
Ich hoffe, die Fragen zu Ihrer Zufriedenheit beantwortet zu haben und verbleibe mit freundlichen Grüßen
Ihr
Markus Kurth