Frage an Jürgen Trittin von Matthias M. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
Sehr geehrter Herr Trittin,
ich frage mich, wie es sein kann, dass in unserer Bundesrepublik - vorgeblich eine Demokratie und ein Rechtsstaat - noch immer die Wehrpflicht und die damit faktische (nicht nur behauptete!) Wehrungerechtigkeit existieren. Wieso benachteiligt ein so fortschrittlich-soziales Land mit Antidiskriminierungsgesetz und im GG verankertem Gleichheitsgrundsatz jedes Jahr aufs Neue derart viele junge Männer, während andere aus „medizinischen Gründen“ ausgemustert werden? Es kann daraus nur folgen: Wenn Wehrpflicht, dann alle (alle Männer und alle Frauen, ohne Ausnahme)! Eigentlich ist - und das wissen alle - der in den westlichen Industriestaaten einzigartige deutsche Zwangswehrdienst, währenddessen die Wehrpflichten wie ein Stück Dreck behandelt werden, längst überfällig. Wieso wird Art. 12a GG nicht endlich um der Gerechtigkeit willen abgeschafft oder aber seine Vollstreckung ausgesetzt? Als Demokrat kann ich die aktuelle Praxis nicht akzeptieren.
Vielen Dank für eine Stellungsnahme!
Sehr geehrter Herr Moog,
wir sind schon lange dafür, die Wehrpflicht abzuschaffen. Die Wehrpflicht hat keine Zukunft. Sie ist unter den heutigen sicherheitspolitischen Rahmenbedingungen die unsinnigste, ungerechteste und verschwenderischste Form, Nachwuchs für die Bundeswehr zu rekrutieren. Es gibt intelligentere und für alle Seiten lohnenswertere Modelle. Dafür müssen die Rahmenbedingungen für die Freiwilligendienste in Deutschland ausgebaut werden und die Bundeswehr einen Kurz- und Schnupperdienst für Frauen und Männer einführen.
Die Allgemeine Wehrpflicht ist auch in Deutschland sicherheitspolitisch nicht mehr begründbar. Sie ist unter Gerechtigkeitsgesichtspunkten unhaltbar und wird dem verfassungsrechtlich gebotenen Gleichheitsgrundsatz nicht mehr gerecht. Die Rest-Wehrpflicht in Deutschland kann und muss überwunden werden. Von einer „allgemeinen“ Wehrpflicht für Männer kann seit vielen Jahren keine Rede mehr sein. Wenn 50 Prozent eines Geburtenjahrgangs aus- oder untauglich gemustert wird und 25 Prozent Zivildienst leistet, wird die Wehrpflicht zur Farce und der Wehrdienst zur Ausnahme. Damit sind Wehrpflichtige, die zu einem Dienst in der Bundeswehr oder zu einem Ersatzdienst herangezogen werden, gegenüber gleichaltrigen Männern und Frauen deutlich benachteiligt. Wehrpflichtige und ihre Angehörigen sind von der Verzögerung von Studium oder Ausbildung, der Gefährdung von Ausbildungs-und Arbeitsplätzen, der Nichtgenehmigung von Auslandsaufenthalten, geringeren Verdienstmöglichkeiten usw. betroffen.
Die veränderten sicherheitspolitischen Rahmenbedingungen und der damit einhergehende Auftragswechsel haben in den vergangenen Jahren bei den meisten unserer Bündnispartner zum Abschied von der Wehrpflicht geführt. Auch die Sicherheit Deutschlands kann ohne Wehrpflicht gewährleistet werden. In den vergangenen Jahren wurde ein Transformationsprozess eingeleitet, der in Richtung Freiwilligenarmee führt. Der Ausbau des freiwilligen Wehrdienstes und die Öffnung der Bundeswehr für den freiwilligen Dienst von Frauen gehören hier ebenso dazu wie die Reduzierung des Streitkräfteumfangs, insbesondere im Bereich der herkömmlichen Wehrdienstplätze.
Mit freundlichen Grüßen
Jürgen Trittin