Frage an Jürgen Trittin von Barbara S. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
Guten Tag Herr Trittin,
ich war langjährige Grünen-Wählerin. Nun bin ich entsetzt, dass die Volksabstimmung aus dem Grundsatzprogramm der Partei DIE GRÜNEN gestrichen werden soll. Und ich frage mich, wie Sie das rechtfertigen? Wieso haben DIE GRÜNEN Angst vor Bürgerbeteiligung und direkter Demokratie, obwohl u.a. die Schweiz zeigt, wie stabilisierend Volksabstimmungen auf das politische System wirken. Das Thema Bürgerräte ist endlich international im Kommen — aber eigentlich schon seit Jahrzehnten in seiner positiven Auswirkung auf verantwortungsvolle, offene Demokratie untersucht. Auch vor diesem Hintergrund können Sie das sinkende Vertrauen in »professionelle« Politik sicherlich nicht aufhalten, indem Sie Bürgerexpertise und Volksabstimmungen weiterhin ausschließen.
Ich bitte Sie dringend, sich für den Erhalt der Volksabstimmung in Ihrem Grundsatzprogramm einzusetzen.
Vielen Dank! ich freue mich auf Ihre Antwort.
Herzliche Grüße!
Barbara Schubert
Sehr geehrte Frau Schubert,
herzlichen Dank für Ihre Nachricht.
Das Thema der direkten Demokratie begleitet uns Grüne bereits seit unserer Gründung unter den Werten Ökologisch - Sozial - Basisdemokratisch - Gewaltfrei. Schon in diesen Werten des Grundsatzprogramms von 1980 spiegeln sich Spannungen und Widersprüche. Und deshalb war die Frage, ob Volksentscheide ein gutes Instrument sind, um diese Werte durchzusetzen, durchaus umstritten.
Dennoch fand die Forderung nach Volksabstimmungen lange in verschiedenen Grünen-Programmen Eingang - oft gegen die Stimmen von Grünen wie mir. Diese Position haben wir mit der Entscheidung von der Bundesdelegiertenkonferenz geändert.
Falsch aber ist es zu behaupten , dass mit Veränderung schafft Halt die "Volksabstimmung aus dem Grundsatzprogramm gestrichen" wurde. Im Gegenteil – Volksabstimmungen standen im bisher gültigen Grundsatzprogramm nicht drin. Im bisherigen Programm von 2002 war davon die Rede: „Es sind neue Beteiligungsformen zu ermöglichen und zu etablieren, die geeignet sind, den gesellschaftlichen Dialog zu befördern.“
Genau das leistet das neue Grundsatzprogramm – es schafft mit dem Instrument der Bürger*innen-Räte ein konkretes Beteiligungsinstrument.
Meine Kritik am Instrument der Volksentscheide auf Bundesebene ist eine grundsätzliche und nicht neu. Aber sie hat durch die Erfahrungen mit real stattgefundenen Volksentscheiden und dem Aufstieg rechter Populist*innen, Nationalist*innen und Rassist*innen eine neue, bittere Aktualität bekommen.
Für uns Grüne stehen die Demokratie und der Schutz aller Menschen, insbesondere auch der Schutz von Minderheiten, an oberster Stelle. Volksentscheide allerdings können nur zwischen ja und nein unterscheiden – zwischen allem und nichts. Den Schutz von Minderheiten kennen sie nicht, Kompromisse können sie nicht verhandeln – all das kann aber unsere repräsentative Demokratie. Als gewählte Volksvertreter*innen diskutieren wir im Parlament, wägen ab und verhandeln Gesetze und Entscheidungen bis ins kleinste Detail – all das ist mit Volksentscheiden leider nicht möglich, wie wir beispielsweise auch am Bespiel des Brexits sehen.
Volksentscheide wären ein Wechsel des demokratischen Betriebssystems unseres Landes. Und sie bedeuten eine Schwächung der parlamentarischen Demokratie. Und in Zeiten, wo wir Abgeordnete als Vertreter*innen einer Corona-Diktatur beschimpft und in den Räumen des Deutschen Bundestags bedrängt werden, halte ich das für den falschen Weg.
Ich hoffe Ihnen hiermit meine und unsere Beweggründe etwas nachvollziehbarer erklärt zu haben und sie auch weiterhin in unseren Reihen zu wissen.
Mit besten Grüßen
Jürgen Trittin