Frage an Jürgen Trittin von Jim B. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
Sehr geehrter Herr Trittin,
2012 sagten Sie:
"Die Türkeipolitik von Frau Merkel bedarf einer gründlichen Überprüfung. Die Türkei unter Erdogan hat sich im Vergleich zu der Zeit vor 15 Jahren erheblich zum Positiven verändert"
Sehen Sie das heute noch immer so?
Wollen Sie die Türkei (unter Erdogan) immer noch in die EU holen?
Finden Sie nicht das die Türkei eigentlich nicht nach Europa gehört, weil sie weder politisch, noch kulturell, noch wertemäßig etwas mit Europa gemeinsam hat?
Ist die Türkei eigentlich noch eine richtige Demokratie?
Immerhin wurden unter Erdogan etliche Menschen weggesperrt und unzählige mit Wasserwerfern verletzt (darunter auch Ihre Kollegin Claudia Roth, die in die Türkei zum Protestieren ging) und sogar mehrere von Polizisten getötet.
Erdogan wirft den Demonstranten (so macht es auch Assard in Syrien!) vor aus dem Ausland gesteuert zu werden; wenn Bundestagspolitiker wie Frau Roth in die Türkei reisen und da mitdemonstrieren ist das dann nicht Wasser auf seinen Mühlen?
Glauben Sie nicht auch, dass wenn wir die Türkei unter Erdogan in die EU lassen, wir so seine Politik (gegen die Frau Roth ja eigentlich zu Recht demonstriert hat) bestätigen und so dafür sorgen das er sagen kann:
"Ich hab alles richtig gemacht; schaut her! Die wollen mich trotzdem in die EU holen; also muss ich ja im Recht sein, oder?"?
Wenn die Türkei unter Erdogan in die EU kommt, ist das doch eine Form der Legitimierung für sein Regime (dasselbe Regime gegen das Frau Roth und andere Grüne sind), oder?
Sehr geehrter Herr Becker,
haben Sie vielen Dank für Ihre Nachricht.
Die Reformdynamik der Anfangsjahre von Erdogans Regierung haben wesentlich zur Überwindung der Alten Türkei, Rückführung des Militärs in die Kasernen, mehr Demokratie und Freiheit beigetragen. In dieser Phase haben wir seine Reformschritte unterstützt. In der letzten Zeit aber zeigt Erdogan autoritäre Herrschaftszüge; dieses „Demokratieverständnis“ lehnen wir ab.
Wir Grüne fühlen uns solidarisch mit den Protestierenden in der Türkei.
Wir meinen, dass man der pro-europäischen Demokratiebewegung durch eine Verzögerung der Beitrittsverhandlungen in den Rücken fällt. Statt dessen muss die EU ihren Einfluss auf Erdogan im Rahmen der Verhandlungen nutzen. Wir wollen verhandeln, damit die Menschen in der Türkei endlich mehr Demokratie und Rechtsstaatlichkeit durchsetzen können. Vor allem Deutschland muss sich endlich zu einer Beitrittsperspektive für die Türkei bekennen, denn nur so kann die EU die Türkei zu Reformen bewegen und die türkische Regierung zu mehr Verbindlichkeit zwingen. Wir wollen alles in die Waagschale legen, was den Druck auf Erdogan in der Türkei erhöhen kann, um die grundlegenden demokratischen Rechte für die Protestierenden durchsetzen zu können. Auch Mitglieder der Taksim-Plattform hatten die EU-Außenminister in einem offenen Brief gebeten, die Wiedereröffnung der Beitrittsverhandlungen nicht zu blockieren.
Angela Merkel gibt vor, an den Beitrittsverhandlungen festhalten zu wollen, zugleich lehnt die Union in ihrem Wahlprogramm eine EU-Mitgliedschaft der Türkei ab. Das ist platter Wahlkampfpopulismus, der de facto jeden EU-Einfluss auf eine Verbesserung der Lage in der Türkei zunichtemacht. Und es hilft indirekt Ministerpräsident Erdogan, den Eindruck zu vermitteln, dass die Proteste die EU-Perspektive der Türkei verhindern.
Mit freundlichen Grüßen
Team Trittin