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Jürgen Trittin
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Frage von Andreas V. •

Frage an Jürgen Trittin von Andreas V. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen

Lieber Herr Trittin,

mit entsetzen habe ich realisieren müssen, dass Sie und ihre Partei Befürworter des ESM Vertrages sind. Nun frage ich mich, ob parteiintern eine inhaltliche Auseinandersetzung mit diesem Knebelvertrag stattgefunden hat. Haben Sie vielleicht die historische Dimension von Ermächtigungsgesetzen aus den Augen verloren und dem Gedächtnis verbannt?

Hier ein paar Auszüge aus dem Vertragswerk:

Artikel 9: Kapitalabrufe
«Die ESM-Mitglieder sagen hiermit bedingungslos und unwiderruflich zu, bei Anforderung jeglichem [...] Kapitalabruf binnen 7 Tagen nach Erhalt dieser Forderung nachzukommen.»

Artikel 10: Änderung des Grundkapitals
«Der Gouverneursrat kann Änderungen des Grundkapitals beschließen und Artikel 8 ... entsprechend ändern.»

Der Gouverneursrat besteht aus nicht gewählten Vertretern der Mitgliedsländern, und das sind zu einem großen Teil eben die so genannten «PIGS», also die Länder, die schon längst pleite sind, und bisher noch um Hilfszahlungen bitten mussten. Das müssen sie dann nicht mehr. Sie beschließen einfach, daß sie noch mehr Geld brauchen und fordern es auch ein. Und zwar in unbegrenzter Höhe.

Artikel 27: Rechtsstellung des ESM, Immunität und Vorrechte
«2. Der ESM [...] verfügt über volle Rechts- und Geschäftsfähigkeit für [...] das Anstrengen von Gerichtsverfahren.»
«3. Der ESM, sein Eigentum, seine Finanzmittel und Vermögenswerte genießen umfassende gerichtliche Immunität.»
«4. Das Eigentum, die Finanzmittel und Vermögenswerte des ESM sind von Zugriff durch Durchsuchung, Beschlagnahme, Einbeziehung, Enteignung und jede andere Form der Inbesitznahme ... durch Regierungshandeln oder auf dem Gerichts-, Verwaltungs- oder Gesetzeswege befreit.»

Jede Partei, die diesem Vertragswerk guten oder schlechten Gewissens zustimmt, ist für den kritischen Bürger nicht mehr wählbar. Sehen Sie das anders?

Grüße ,
Andreas Voigt

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Antwort von
Bündnis 90/Die Grünen

Sehr geehrter Herr Voigt,

meine Partei hat sich sehr gründlich mit dem ESM befasst. Er ist ein wichtiger Baustein, um die Eurozone langfristig zu stabilisieren. Er wird Euro-Staaten helfen, die sich in einer Notlage befinden und am Markt keine bezahlbaren Kredite mehr bekommen und dafür sorgen, dass die Notlage eines Mitgliedstaates nicht zu einer Notlage der gesamten Eurozone führt. Zudem bietet er einen gemeinsamen Schutz vor Spekulationen gegen einzelne Mitgliedsstaaten.

Im Gegensatz zu Schwarz-Gelb bekennen wir uns eindeutig dazu, dass ohne gemeinsame Gewährleistungen ein Ausweg aus der Krise nicht möglich ist. Die Koalition hat mit ihrem zögerlichen Verhalten bisher nur erreicht, dass der größte Teil der Krisenstrategie momentan durch die EZB ausgeführt wird. Dadurch werden de facto Risiken aus den nationalen Haushalten auf die EZB verlagert. Hinter der EZB stehen am Ende jedoch dieselben europäischen SteuerzahlerInnen. Die Risiken bei der EZB übersteigen mittlerweile das Volumen des ESM bei weitem. Somit ist die Bundesregierung nicht ehrlich gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern, wenn sie behauptet, sie sei gegen eine Vergemeinschaftung von Schulden. Diese gibt es bereits.

Der Anteil Deutschlands am eingezahlten Eigenkapital des ESM beläuft sich auf ca. 22 Milliarden Euro und am abrufbaren Kapital auf ca. 168 Milliarden Euro. Insgesamt können Kredite in Höhe von 500 Mrd. Euro gewährt werden. Die maximale Gewährleistungshöhe ist somit fixiert. Die Parlamentsbeteiligungsrechte werden in dem ESM-Finanzierungsgesetz (ESMFinG) geregelt. Wir streben einen gemeinsamen Gesetzesentwurf mit den Koalitionsfraktionen und der SPD an. Die Verhandlungen hierzu sind noch nicht abgeschlossen. Aber die Wesentlichen Eckpfeiler sind klar.

Die Summe des deutschen Anteils am ESM ist begrenzt und kann nicht überschritten werden, über sie entscheidet der Deutsche Bundestag. Genauso wie über die Aufnahme eines Staates unter den Rettungsschirm. Zudem sind sich die Fraktionen einig, dass sowohl bei einer Erhöhung des Stammkapitals als auch bei einer Änderung der Finanzhilfeinstrumente der Bundestag vor Beschluss des Gouverneursrates ein zustimmendes Votum erteilen muss.

Eine Aufstockung des ESM kann der Gouverneursrat also nicht ohne vorherige Zustimmung des Deutschen Bundestages beschließen. Bevor der deutsche Finanzminister im Gouverneursrat einer Erhöhung des Rettungsschirmvolumens zustimmt, muss der Deutsche Bundestag hierzu einen zustimmenden Beschluss fassen. Sagt der Bundestag "Nein", so ist der deutsche Finanzminister gesetzlich verpflichtet, im Gouverneursrat die Aufstockung abzulehnen. Und dadurch, dass eine Aufstockung nur im gegenseitigen Einvernehmen beschlossen werden kann, würde an nur einer "Ablehnung" eine geplante Aufstockung scheitern.

Anders stellt es sich jedoch dar, wenn der Gouverneursrat genehmigtes nicht eingezahltes Kapital abruft und den Mitgliedern eine angemessene Frist für die Einzahlung setzt. Diese Situation kommt zum Tragen, wenn ein Land die Kredite an den ESM nicht zurückzahlt und dieser somit bei seinen Gläubigern in der Schuld steht. In einem solchen Moment muss der ESM dann auf seine Bareinlage zurückgreifen, um die Verluste aufzufangen. Das ist wichtig, damit der ESM als verlässlich gilt und ein gutes Rating bekommt/behält. Die Bareinlage muss der ESM dann auffüllen, indem er einen höheren Anteil des zugesagten/gezeichneten Kapitals abruft. Aber auch in diesem Szenario kann der ESM nicht über die Grenzen hinaus, die der Deutsche Bundestag beschlossen hat, hat Kapital abrufen.

Der ESM ist also weder ein Fass ohne Boden, noch mangelt es ihm an demokratischer Legitimation und Kontrolle.

Auch wenn der ESM keine Europäische Institution ist, orientieren sich die Immunitäts-Regelungen für ESM-Angestellte an denen, die auch für die Angestellten der europäischen Institutionen gelten. Diese genießen jedoch keine rechtliche Immunität als Privatpersonen. So auch für ESM-Akteure (Mitglieder des Gouverneursrat, also die Finanzminister; die Mitglieder des Direktoriums), die Immunität bezieht sich lediglich auf ihre amtlichen Handlungen. Das heißt, niemand soll z.B. angeklagt werden können, weil er -- unter den gegebenen Voraussetzungen - ein bestimmtes Land für nicht solvent befunden hat. Die Immunität erstreckt sich jedoch nicht auf strafbare Handlungen, die nichts mit den Amtshandlungen zu tun haben. Die Immunität kann durch den ESM aufgehoben werden.

Mit freundlichen Grüßen

Jürgen Trittin