Frage an Jürgen Trittin von Ralf O. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
Thema: Neue Parteien:
1) Was halten Sie von den Piraten--wäre diese "Partei" für sie ein Bündnispartner? Ich habe den Eindruck, ausser der Netzpolitik und der Idee der internetbasierten Netzdemokratie haben die Piraten inhaltlich bisher noch sehr wenig zu bieten.Es ist auch auffällig, dass sie z.B. von Eberhard Diepgen (CDU) so umworben werden.Seine Aussage ist: Die Piraten sind nette Systemadministratoren und werden unsere demokratischen Parteien noch mal besser vernetzen--aber danach braucht es sie nicht mehr.Wie sehen Sie das? Immerhin kommen die Piraten bei Bundestagswahlumfragen auf eine höhere Stimmzahl als die Linke.Was wären die Minimalpositionen, dass sie mit ihnen koalieren?
2) Ex-BDI-Chef und Ex-IBM-Manager Hans-Olaf Henkel möchte nächstes Jahr seine neue Partei ausrufen. Noch nicht klar ist, wer dazu alles mitzählt. Gemunkelt wird von Hankel bis Sloterdijik bis Sarrazin.Es gibt jede Menge Rundrufe in der Szene und auch Jürgen Elsässer veruscht da Fuss zu fassen.Henkel hat ein Buch geschrieben--haben sie dieses schon gelesen? Ich noch nicht, aber bsiher kenne ich von ihm die Hauptthese, dass Deutschland sich in der EU zu sehr Frankreich unterwirft und man deswegen einen Nordeuro ohne Frankreich brauchen würde.
Henkels Biographie dürfte zumal auch für eine Agenda 2020 sprechen, wie sie schon von Merkel und Steinbrück in den Mund genommen wird, d.h. Ausweitung der Niedriglohnsektoren. Flexibiliserungen des Arbeitsmarktes (Kauder: Wir müssen die Finanzmärkte regulieren und die Realwirtschafdt deregulieren!), Sozialbaabu,etc.Halten sie eine Henkelpartei als realstische Option für die Eurokirse?
Sehr geehrter Herr Ostner,
gerne beantworte ich Ihre Fragen zu neuen Parteien.
1. Die Piraten: Sie haben Recht, in vielen inhaltlichen Fragen sind die Piraten bis jetzt noch ziemlich inhaltsleer, was sie auch selbst offen zugeben. Ich möchte hinzufügen: Auch in der Netzpolitik vertreten sie teilweise recht oberflächliche Positionen bzw. machen sich ausschließlich zum Anwalt der sehr netzaffinen Teile der Bevölkerung und blenden dabei den Rest aus. Die netzpolitischen Positionen von Bündnis 90/Die Grünen sind deutlich differenzierter; wir denken nicht nur an die Digital Natives, sondern z.B. auch an die Silver Surfer. Übrigens: Wenn Sie das Thema Netzpolitik interessiert, lade ich Sie ein, die bevorstehende Grünen-BDK vom 25. bis 27.11. in Kiel zu verfolgen, dort wird das Thema Netzpolitik einer der Schwerpunkte sein.
Um auf die Piraten zurückzukommen: Sie sind nun erstmals als Fraktion im Berliner Abgeordentenhaus vertreten und werden dort nicht nur Netzpolitik machen können. Eine Einarbeitungsphase in andere Politikfelder sei ihnen zugestanden, die ist aber spätestens in einigen Monaten vorbei. Dann werden wir die Piraten genau wie alle anderen Parteien an ihren Inhalten und an ihrer Bandbreite messen. Das gilt selbstverständlich auch für die Bundestagswahl 2013, auf die Sie mit Ihrer Frage anspielen, wie ich vermute. Bis dahin haben die Piraten, so ist in ihrem eigenen Interesse zu hoffen, ein Programm für alle wichtigen Politikfelder zu bieten. In Koalitionsfragen haben wir Grüne seit Jahren eine ganz klare Linie: Wir koalieren mit der Partei bzw. den Parteien, mit denen sich die meisten grünen Inhalte umsetzen lassen. Wer das 2013 im Bund sein wird? Von heute aus kann ich nur eines klar sagen: Die CDU mit ihrem europafeindlichen Anhängsel aus Bayern ist es nicht.
2. Eine "Henkel-Sarrazin-Partei": Selbst wenn Henkel, Sarrazin und noch ein paar weitere Populisten versuchen sollten, den untergehenden Stern des Neoliberalismus mit der Gründung einer neuen Partei zu retten -- mehrheitsfähig wird diese Partei nicht sein. Gerade die Eurokrise zeigt überdeutlich, dass die Rezepte des Turbokapitalismus ausgedient haben, dass der Markt bzw. das freie Spiel der Kräfte eben nicht alles zum Besten regelt, sondern die soziale Krise weiter verschärft. Wenn einige wenige Finanzspekulanten ganze Staaten an den Rand des Abgrunds treiben und völlig abgekoppelt von den realen Wirtschaftsdaten Volkswirtschaften ruinieren können, dann stimmt etwas grundsätzlich mit dem System nicht. Immer mehr Menschen sehen das so, die Occupy-Bewegung wird nicht umsonst immer stärker. Auch nationalistische Töne a la Henkel/Sarrazin sind aus der Zeit gefallen, seien sie nun gegen Frankreich, Griechenland oder gegen Migranten in Deutschland gerichtet. Ich würde also recht gelassen mit einem derartigen Parteigründungsversuch umgehen -- mehr als interne Konkurrenz im ultrarechten Lager wird sie nicht sein.
P.S. Das Buch von Hans-Olaf Henkel habe ich nicht gelesen. Das von Dieter Bohlen auch nicht.
Mit freundlichen Grüßen
Jürgen Trittin