Frage an Jürgen Trittin von Thorsten H. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
Sehr geehrter Herr Trittin,
ich habe hier bei Abgeordnetenwatch eine Frage an einen anderen Politiker entdeckt, die ich gerne auch Ihnen stellen würde:
nach folgendem Urteil des Bundesverfassungsgericht Zitat:
Bundesverfassungsgericht 30.06.2009 Urteil 2BvE 2/08:
"Das Grundgesetz ermächtigt die für Deutschland handelnden Organe nicht, durch einen Eintritt in einen Bundesstaat das Selbstbestimmungsrecht des Deutschen Volkes in Gestalt der völkerrechtlichen Souveränität Deutschlands aufzugeben. Dieser Schritt ist wegen der mit ihm verbundenen unwiderruflichen Souveränitätsübertragung auf ein neues Legitimationssubjekt (Bemerkung meinerseits: der Begriff ist sehr unglücklich gewählt) allein dem unmittelbar erklärten Willen des Deutschen Volkes vorbehalten…"
Meine Frage:
Wann wird dem Deutschen Volk der EU-Beitritt (Verfassung bzw. Vertrag von Lissabon) + die geplante EU-Wirtschaftsregierung zur Abstimmung vorgelegt und wann eine Verfassung für das Deutsche Staatsgebiet?
Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgericht ist das unwiderruflich dem deutschen Volk vorbehalten.
Mit freundlichem Gruß,
Thorsten Henkel
Sehr geehrter Herr Henkel,
vielen Dank für Ihre Frage.
Die Bundesrepublik Deutschland gehört zu den Gründungsmitgliedern der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (sog. Montanunion), die einer der Vorläufer der heutigen Europäischen Union war. Insofern kann Ihre Frage, wann die Zustimmung des deutschen Volkes zum EU-"Beitritt" eingeholt wird, nicht beantwortet werden - es gab diesen Beitritt schlicht nicht.
Der von Ihnen zitierte Auszug aus der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 30.06.2009 spricht bei dem sogenannten "Legitimationsobjekt", auf das im gegebenem Fall die Souveränität und Selbstbestimmung der deutschen Bevölkerung übertragen würde, ausdrücklich von einem "Bundestaat". Bei der Europäischen Union handelt es sich jedoch nicht um einen souveränen Bundesstaat, sondern um einen Staatenverbund, dem die Bundesrepublik Deutschland als souveräner Staat angehört.
Der erste Leitsatz der von Ihnen zitierten Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts lautet: "Das Grundgesetz ermächtigt mit Art. 23 GG zur Beteiligung und Entwicklung einer als Staatenverbund konzipierten Europäischen Union. Der Begriff des Verbundes erfasst eine enge, auf Dauer angelegte Verbindung souverän bleibender Staaten, die auf vertraglicher Grundlage öffentliche Gewalt ausübt, deren Grundordnung jedoch allein der Verfügung der Mitgliedstaaten unterliegt und in der die Völker - das heißt die staatsangehörigen Bürger - der Mitgliedstaaten die Subjekte demokratischer Legitimation bleiben."
Diese Bedingungen wurden im Zuge der Ratifizierung der Lissabon-Verträge erfüllt. Es wurden vier Begleitgesetze erarbeitet, die im September 2009 vom Bundestag und Bundesrat angenommen wurden. Diese Begleitgesetze sorgen dafür, dass Bundestag und Bundesrat entscheidenden Beschlüssen auf EU-Ebene zustimmen müssen, bevor die Bundesregierung oder die dafür zuständigen Gremien der EU darüber entscheiden dürfen. Auch den Ländern werden Mitbestimmungsrechte in verschiedenen Bereichen zugesprochen. Die Begleitgesetze zum Vertrag von Lissabon sichern somit die Souveränität der deutschen Parlamente bei europäischen Entscheidungsfragen und sorgen dafür, dass der Integrationsprozess der EU weiterhin in der Verantwortung von Bund und Ländern liegt.
Unter Berücksichtigung dieser Begleitgesetze wurde der Vertrag von Lissabon schließlich von Bundespräsident Horst Köhler unterzeichnet und somit ratifiziert. Diese Ratifizierung erfordert im Einklang mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes keine Volksabstimmung. Genauso verhält es sich mit einer geplanten zukünftigen EU-Wirtschaftsregierung. Bevor Beschlüsse auf europäischer Ebene gefasst werden, muss der Bundestag ihnen zustimmen.
Die Frage der Erarbeitung und Verabschiedung einer Verfassung für die Bundesrepublik Deutschland, die das Grundgesetz ablösen würde, wurde zuletzt im Zusammenhang mit der deutschen Wiedervereinigung im Jahr 1990 breiter diskutiert. Die von Ihnen zitierte Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts befasst sich nicht mit diesem Aspekt, daher lässt sich daraus weder eine Veranlassung für noch eine Antwort auf Ihre Frage ableiten.
Mit freundlichen Grüßen
Jürgen Trittin