Frage an Joachim Schulze von Bernd S. bezüglich Arbeit und Beschäftigung
Sehr geehrter Herr Prof. Schulze
beim diesjährigen 30. Evangelischen Kirchentag wartete auf die Besucher unseres Standes neben dem Thema Energiemix auch ein „Fragenwald“ zur aktuellen gesellschaftlichen Debatte über den Arbeitsmarkt und das Sozialsystem.
Unsere Standbesucher waren aufgerufen, mit einer Hand voll Bohnen die Themen zu kennzeichnen, die sie persönlich für besonders wichtig hielten und bei denen sie dringenden Handlungsbedarf sahen. Es ging uns nicht um ein einfaches Ja oder Nein zu den Fragen. Der Leitgedanke war, zum Nachdenken und zur Diskussion anzuregen.
Unseren etwa 1500 Standbesuchern versprachen wir, Politikern das Ergebnis der Umfrage zugänglich zu machen und sie zu bitten, sich persönlich an der Diskussion zu beteiligen.
Je zwei Fragen aus dem Themenkomplexen Arbeitsmarkt und Sozialpolitik wurden anhand der Bohnen als die dringlichsten Fragen gewichtet. Es waren:
· Sind Schulbildung, Ausbildung, Weiterbildung nur Kostenfaktoren? (11,61%)
· Wie können Unternehmer verpflichtet werden, einen angemessenen Beitrag für mehr soziale Sicherheit zu leisten, egal wo sie produzieren? (10,45%)
· Soziale Gerechtigkeit – Utopie oder frommer Wunsch?
Was bedeutet für Sie „Soziale Gerechtigkeit“?
… Chancengleichheit?
… Vollbeschäftigung?
… in sozialer Not, einheitliches Hilfsangebot? (10,97%)
· Brauchen wir, trotz hoher Arbeitslosigkeit, kürzere Ausbildungszeiten und eine längere Lebensarbeitszeit? (9,28%)
Wir möchten Sie bitten, in diesem Forum zu den als dringlich gewichteten Fragen Stellung zu nehmen.
Sollten Sie oder Besucher dieser Plattform an den weiteren Fragen und deren Bewertung interessiert sein, können sie die Unterlagen gerne unter 0175 377 6116 anfordern.
Wir wünschen Ihnen, dass Sie viele Chancen haben, den Menschen in Ihrem Wahlkreis Ihre politischen Ziele und Lösungsvorschläge vorzustellen.
Mit freundlichen Grüßen
Bernd Schnabel
Sehr geehrter Herr Schnabel,
herzlichen Dank für Ihre Fragen. Wie telefonisch bereits besprochen, werde ich kurz antworten und denke, dass sich - wie von Ihnen angeboten - nach den Wahlen auch einmal die Gelegenheit zum direkten Gespräch ergeben wird.
(1) Schulbildung, Ausbildung, Weiterbildung
Ich betrachte die privaten und gesellschaftlichen Aufwendungen für den Bildungs- und Ausbildungsbereich in erster Linie als Investition in die Zukunft. Wenn für Deutschland wirtschaftlich gesehen die Zukunft im Bereich hochqualifizierter Dienstleistungen und High-Tech-Produkten gesehen wird, so müssen wir uns die Schaffung von Voraussetzungen dafür mehr kosten lassen als bislang. Dies beginnt bei der Umstrukturierung im vorschulischen Bereich und reicht - soweit erforderlich - bis zur Anpassungsqualifizierung von älteren Menschen, auf deren Mitarbeit künftig nicht verzichtet werden kann angesichts des demografischen Wandels. Bildung hat als Beitrag zur Befreiung des Menschen aus Unmündigkeit aber eine über die ökonomische Verwertbarkeit hinausreichende Bedeutung und Aufgabe.
(2) Verpflichtung der Unternehmen zu Beiträgen zur sozialen Sicherheit
Durch gesetzliche Maßnahmen, durch mittelfristig zu erreichende Angleichung von Standards für soziale Sicherung und Steuerpolitik zunächst auf EU-Ebene und Schaffung von Finanzausgleichssystemen, durch entsprechende Kampagnen von Verbrauchern und gesellschaftlichen Kräften wie den Kirchen, Wohlfahrtsverbänden, Gewerkschaften und Unternehmensverbänden, die Verhaltens-Kodizes entwerfen, durch verpflichtende Verankerung von Lehrveranstaltungen zur Unternehmensethik in einschlägigen Studiengängen.
(3) Soziale Gerechtigkeit - Utopie oder frommer Wunsch?
Weder noch. Nach meinem Verständnis von Artikel 20 Abs. 1 Grundgesetz handelt es sich hier um einen Verfassungsauftrag, der unter sich wandelnden Bedingungen immer wieder neu auszufüllen ist. Für mich handelt es sich auch eher um ein prozeßhaftes Geschehen als um einen klar definierbaren stabilen Zustand.
(4) Begriffsbestimmung
Im unter (3) skizzierten Sinn fallen für mich unter Soziale Gerechtigkeit: Schutz der Schwachen, Förderung der Benachteiligten, Beseitigung von Diskriminierungen, Inanspruchnahme eines Jeden nach seinen spezifischen Möglichkeiten für Angelegenheiten der Gemeinschaft/Gesellschaft, Interessensausgleich, Subsidiarität, Solidarität, Partizipation.
(5) Kürzere Ausbildungszeiten, längere Lebensarbeitszeit
Das lässt sich so pauschal für mich nicht beantworten. Zunächst muss geklärt werden, ob man über Erwerbsarbeit spricht oder über Arbeit generell. Auch bei den Ausbildungszeiten hängt das von dem jeweiligen Bereich ab, um den es geht. Und bei der Erwerbsarbeit hat das aus dem Charakter der Arbeit zu folgen. Letztens war ein eindrucksvolles Beispiel im Fernsehen zu betrachten: ein Straßenwärter auf der Bundesautobahn wurde einem Manager gegenübergestellt, der im klimatisierten Büro und abgeschirmt und umsorgt von Sekretärinnen mit viel Autonomie arbeiten kann. Es gibt Bereiche, in denen die knapper werdende und u.U. sehr auszehrende Arbeit verteilt werden muss. In anderen Bereichen wird es künftig vielleicht zu wenig (manche sagen, schon in relativ kurzer Zeit) Arbeitskräfte geben. Nach meinem Eindruck wird die von Unternehmensvertretern und Neoliberalen betriebene Forderung nach kürzerer Ausbildung und längerer Arbeitszeit durch kurzfristig angelegte Profitinteressen bestimmt bzw. propagandistisch genutzt, um sogenannte "Anspruchshaltungen" der Arbeitnehmer anzugreifen.
Mit freundlichen Grüßen
Ihr
Prof.Dr. Joachim Schulze