Ingrid Nestle sitzend vor einer grünen Hecke in einem orangefarbenen Blazer
Ingrid Nestle
Bündnis 90/Die Grünen
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Frage von Dirk G. •

Frage an Ingrid Nestle von Dirk G. bezüglich Gesundheit

Sehr geehrte Frau Nestle,

am morgigen Freitag, den 06.11.2020, soll über den Entwurf eines "Dritten Gesetzes zum Schutz der Bevölkerung ....." im Bundestag beraten werden.
Mit diesem Gesetz werden weitreichende Grundrechtseinschränkungen unter dem Deckmantel eines "Gesundheitsdiktats" beschlossen.
Sie als Bundestagsabgeordnete aus Schleswig-Holstein haben jetzt die Gelegenheit, sich zu unseren unveräusserlichen Grundrechten zu bekennen und dieses Gesetz zu stimmen! Lassen Sie diesen Gesetzes-Albtraum nicht wahr werden! Ich bitte Sie inständig!
Wie wollen Sie Ihre Zustimmung zu diesen Gesetz vor sich und dem Land rechtfertigen?

Mit freundlichen Grüßen

D. G.

Ingrid Nestle sitzend vor einer grünen Hecke in einem orangefarbenen Blazer
Antwort von
Bündnis 90/Die Grünen

Sehr geehrter Herr Gerschau,

Aus meiner Sicht liegen zwei völlig berechtigte Debatten vor: die nach der demokratischen Legitimation der jeweiligen Maßnahmen und die nach dem richtigen Kurs in einer so einschneidenden Krise, die so lange andauert.

Zum ersten Punkt: Schon seit dem Beginn der Pandemie mahnen meine Fraktion und ich immer wieder an, auf die Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen zu achten und diesen eine rechtsstaatliche Grundlage zu geben, sie zeitlich eng zu befristen, ständig zu evaluieren und sie der jeweils aktuellen Situation laufend anzupassen. Um dieser Forderung Nachdruck zu verschaffen haben wir immer wieder verschiedene umfassende parlamentarische Initiativen vorgelegt (sie finden diese hier: https://www.gruene-bundestag.de/themen/corona-krise). Verschiedene der von uns geäußerten Kritikpunkte, beispielsweise zu den sehr weitreichenden Befugnissen des Bundesgesundheitsministers im ersten Gesetz, wurden vom Wissenschaftlichen Dienst des Bundestages inhaltlich bestätigt. Bezüglich der Anordnungsermächtigung für den Gesundheitsminister äußerte er sogar schwerwiegende verfassungsrechtliche Bedenken. Dies bestätigte uns in unserem Drängen bezüglich der stärkeren Beteiligung von Bundestag und Bundesrat im Verfahren.

Mit unserem Grundgesetz haben wir einen guten Kompass, der gerade auch in diesen schwierigen Zeiten dabei helfen kann, die Herausforderungen im bestmöglichen Sinne zu meistern. Hierfür müssen alle Entscheidungen evidenzbasiert getroffen und auf dieser Grundlage sorgsam abgewogen werden.

Der von Ihnen angesprochene neue Gesetzentwurf „zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite“ hat uns in seiner ersten Fassung auch nicht vollends überzeugt. Es ist uns aber gelungen mittels Druck durch die Oppositionsparteien, z.B. durch die angesetzte Anhörung und unseren hartnäckigen Forderungen nach mehr Beteiligung des Parlamentes in Gesprächen mit der Regierung entscheidende Nachbesserungen zu erreichen. Der überarbeitete Entwurf schließt endlich die gesetzliche Lücke für den Eingriff in die Grundrechte der Bevölkerung, um andere Grundrechte zu garantieren. Hierzu zählen eine Definition der Maßnahmen und eine grundsätzliche zeitliche Befristung bis März 2021 der Rechtsverordnungen. Mit der Befristung wird sichergestellt, dass neue Entwicklungen berücksichtigt werden und geklärt wird, ob eine Aufrechterhaltung verhältnismäßig wäre. Hinzu kommen eine ganze Reihe Verbesserungen in verschiedenen Bereichen. Zum Beispiel wird das Grundrecht auf Kultur berücksichtigt und nicht mehr in einem Atemzug mit Freizeitveranstaltungen genannt, Besuchsbeschränkungen in Alten- und Pflegeheimen werden mit Rücksicht auf die soziale Teilhabe und mentale Gesundheit erschwert, es besteht ein Verbot der Isolation von Personen oder Personengruppen und generelle Ausgangsbeschränkungen sind nicht mehr möglich, sondern nur – unter erhöhten Voraussetzungen – Beschränkungen des Ausgangs zu bestimmten Zeiten oder Zwecken.
Zugleich ist das Gesetz sehr wichtig für unser Land. Gerichte haben deutlich gemacht, dass sie ohne diese gesetzliche Grundlage die schon beschlossenen und notwendigen Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie nicht länger akzeptieren werden. Wir stünden bei vollen Intensivstationen also bald handlungsunfähig da. Solidarität mit den Menschen in unserem Gesundheitswesen bedeutet auch, dass wir Maßnahmen ergreifen, damit das Gesundheitswesen die Situation bewältigen kann und nicht umgekehrt. Das gilt es zu vermeiden. Deshalb habe ich mich entschieden, dem Gesetz zuzustimmen.
Mit diesem Gesetz setzt das Parlament einen Rahmen und eine Befristung für Maßnahmen, die bisher ohne diese Grundlage getroffen wurden. Somit macht der Gesetzgeber zum ersten Mal Schranken klar.
Natürlich ist der Schutz von Menschenleben in einer Pandemiesituation mit Eingriffen in Grundrechte verbunden. Dabei sind Grundrechtseingriffe nichts Besonderes oder Neues, sondern passieren bei vielen Gesetzen, die der Bundestag verabschiedet. Grundrechte gelten nicht absolut. Sondern: Die unterschiedlichen Grundrechte müssen durch die Parlamente in Bund und Land immer wieder in ein Verhältnis gesetzt werden. Beispielsweise greifen das Arbeitsschutzgesetz oder Gaststättengesetz in die Berufsfreiheit ein, aber in einem verträglichen Rahmen. Wir brauchen aber für Grundrechtseingriffe konkrete vom Parlament beschlossene Erlaubnisse, die die Voraussetzungen, den Zweck und die Grenzen für solche Eingriffe regeln. Mit dem Bundesverfassungsgericht haben wir auch in der Judikative die Institution, die im Zweifel diese Eingriffe abwägt und über die Rechtmäßigkeit befindet.

Ich habe mich entschlossen dem Gesetz zuzustimmen, weil es notwendig ist, um einen Kollaps unseres Gesundheitssystems zu verhindern, weil es die Demokratie stärkt und weil wir Grüne in harten Verhandlungen entscheidende Verbesserungen erreichen konnten. Das bedeutet nicht, dass wir jeden Passus genau so geschrieben hätten, wenn wir uns mit niemandem hätten einigen müssen. Dieses Gesetz ist ein erster Schritt. Mit weiterem Erkenntnisgewinn in den nächsten Wochen und Monaten werden weitere folgen müssen. Wir sehen noch Bedarf die endlich erfolgende Parlamentsbeteiligung zu nutzen, um weitere Punkte zu regeln. Dies machen wir mit unserem Änderungsantrag deutlich. Zum Beispiel wollen wir eine stärkere Verankerung des Kindeswohls und die Einrichtung eines interdisziplinär besetzten wissenschaftlichen Pandemierates, der Empfehlungen für eine Strategie für die kommenden Monate erarbeitet und die Beteiligung des Parlamentes stärkt. Es bleibt viel Arbeit zu tun.

Damit komme ich zur zweiten großen Frage, welcher Kurs für unsere Gesellschaft in dieser schwierigen Frage der Beste ist. Vorweg möchte ich betonen, dass ich eine offene Debatte hierzu absolut notwendig finde. Dazu gehört, dass verschiedene Vorschläge öffentlich vorgebracht und Vor- und Nachteile diskutiert werden; manchmal auch hitzig und leidenschaftlich. Gleichzeitig ist es zentral wichtig, dass wir gemeinsam agieren und den jeweils demokratisch beschlossenen Weg gemeinsam gehen und tragen. Dazu gehört, dass man diesen Weg nicht immer ideal findet. Schließlich sind wir eine Gemeinschaft von über 80 Millionen Menschen. Und es ist immer legitim, sich für eine Änderung von als falsch empfundenen Regeln einzubringen. Aber solange die Regeln bestehen, gelten sie für alle. Und das ist gut so. Pandemiebekämpfung sowie die Minimierung und Linderung der Folgen der Pandemie gelingen nur, wenn wir als Gesellschaft handlungsfähig sind und sich nicht jeder seine eigene Strategie zurechtschustert.

Meiner Meinung nach sind derartige sachliche Debatten über den besten Kurs auch nach wie vor sinnvoll, da die Pandemie nicht in zwei Monaten verschwunden sein wird.

Mit freundlichem Gruß

Ingrid Nestle

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