Frage an Detlef Müller von Philip G. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
Sehr geehrter Herr Müller.
Ich schreibe Ihnen heute, weil mir Ihre ausführlichen Antwort gefallen hat und ich auf Ihre Antwort sehr gespannt bin.
Ich beobachte den momentanen Diskurs der Sondierungspartner über den Familiennachzug.
Die Wunschvorstellung von Integration durch Familiennachzug entspricht leider nicht der Realität. Vielmehr haben sich Parallelgesellschaften gebildet (weil Menschen natürlich so leben möchten, wie sie es gewohnt sind und es Ihrer Sozialisation und Kultur entspricht). Durch religiös-indoktrinäre Prägungen über Generationen hinweg ist eine Integration in unsere Sozialisation vielfach gar nicht gewünscht oder aus psychologischen Gründen kaum möglich. Welche alternativen Möglichkeiten zum bedingungslosen Familiennachzug könnten Sie sich vorstellen?
Vielen Dank schon mal für Ihre Antwort und ein gesundes neues Jahr wünsche ich Ihnen!
Sehr geehrter Herr G.,
vielen Dank für Ihre Frage - und natürlich auch Ihnen alles Gute, beste Gesundheit im neuen Jahr!
Zum Thema Famiiennachzug habe ich eine persönliche Meinung, die ich auch in die Diskussionsprozesse regelmäßig einbringe. Meine Meinung basiert auf Erfahrungen und Gesprächen (auch mit Flüchtlingen), aber auch aus meiner kommunalpolitischen Arbeit und Verantwortung als Fraktionsvorsitzender der Chemnitzer SPD-Stadtratsfraktion.
Ich bin gegen einen bedingungslosen Familiennachzug für subsidär Schutzberechtigte. Drei Gründe möchte ich dafür benennen:
1. Es geht in der gesamten Diskussion um die Ermöglichung des Familiennachzuges für Flüchtlinge mit subsidären, also befristeten (!), Schutzstatus. Für alle Anderen (anerkannte Flüchtlinge oder Genfer Flüchtlingskonvention) ist ja der Familiennachzug bereits geregelt.
Subsidäre Schutzberechtigte genießen einen eingeschränkten, zeitlich befristeten Schutzstatus. Das heißt im Normalfall, dass diese Personengruppe nach Wegfall der Bedrohung (Krieg, Gewalt, Gefahr) wieder in ihr Heimatland zurückkehren muss. Eine Regelung, die sowohl für das Heimatland, als auch für die Flüchtlinge wichtig ist, weil klar ist, dass diese Menschen zurückkehren dürfen, können oder auch müssen. Ein Familiennachzug würde diesen Rückkehrmechanismus faktisch aushebeln, da ja nun Bleibegründe (Familie da, Schule, Ausbildung…) entstehen. Es würde eine faktische Aufhebung des Status „subsidär“ kommen - mit allen Folgen für die zahlenmäßige gesteigerte und finanziell anspruchsvolle Aufgabe der Integration. Unsere Integrationsbemühungen müssen und sollen sich aber mit voller Kraft auf die Personengruppe beschränken, die hier eine dauerhafte Bleibeperspektive hat.
2. Familiennachzug ist wichtig für die Integration. Unbestritten. Allerdings ist die nachgekommene Familie auch kein Garant für eine gelingende Integration. Die Gefahr der Bildung von Parallelgesellschaften besteht natürlich. Wie es nicht funktionieren kann und soll, zeigen die Fehler der „alten“ Bundesrepublik und sind in Berlin, Duisburg, Dortmund… zu sehen. Integration braucht viel Zeit, Integrationsbereitschaft auf beiden Seiten, und viele Ressourcen - Personal, Geld, Räume. Wie schon oben beschrieben, sollten wir uns bei dieser Riesenaufgabe konzentrieren!
3. Aus kommunaler Sicht bedeutet ein vollständiger Familiennachzug eine nicht zu beherrschende Aufgabe. Denn - aufgenommen und integriert wird vor Ort- in der Stadt, im Dorf - und nicht im Land oder Bund. Wir planen und bauen in Chemnitz derzeit 8 Kitas und 3 Schulneubauten. Bei einem vollständigen Familiennachzug wird das nicht reichen. Und hier kommt das Problem der absoluten „Nichtplanbarkeit“. Denn Kita-bedarfsplanung als auch Schulnetzplanung beruht auf konkreten Zahlen, den Geburtszahlen. Das ist auch richtig und nachvollziehbar, da man ja belastbare Annahmen treffen muss um Investitionen in Millionenhöhe zu tätigen. Beim Familiennachzug kann man nicht planen, es gibt keine konkreten Zahlen. Da Kita/ Schule aber eben Pflichtaufgaben der Kommune sind, müssen ausreichend Plätze angeboten werden! In Sachsen gibt es darüberhinaus keine Wohnsitzauflage (die CDU-Landräte sind dagegen, die Oberbürgermeister der Großstädte dafür. Hintergrund der Haltung der Landräte ist, dass sie hoffen, dass ein Großteil der Flüchtlinge nicht im Erzgebirge oder in der Lausitz bleiben möchte, sondern nach Dresden, Leipzig, Chemnitz weiterzieht.), was die Planung weiter erschwert. Weder ist bekannt, welche Anzahl Flüchtlinge zusätzlich in die Städte zieht, noch, wie lange sie bleiben oder ob sie nicht schon bald nach Hamburg oder Berlin weiterziehen. Welche Grundlage nehmen wir also für diese, ich sagte es bereits, Pflichtaufgabe an? Wieviel Kitas und Schulen bauen wir zusätzlich? Was ist (Wegzug), wenn in einigen Monaten die Zahlen drastisch nach unten gehen? Stehen dann die neugebauten Gebäude leer? Wo soll das Personal (Lehrer!) herkommen. Und - wer finanziert diese Aufgabe?
Das sind meine ganz praktischen Bedenken, die sich aus dem Erleben vor Ort ergeben.
Ich bin für eine Einzelfallprüfung, da es durchaus Härtefälle, gerade bei minderjährigen, unbegleiteten Flüchtlingen gibt. Aber auch bei dieser Personengruppe muss es bei einer Einzelfallprüfung bleiben, will man nicht das Geschäftsmodell der kriminellen Schlepper noch belohnen und ausweiten.
Mit freundlichen Grüße,
Detlef Müller (Chemnitz)