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Bettina Hagedorn
SPD
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Frage von Clemens W. •

Frage an Bettina Hagedorn von Clemens W. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen

Sehr geehrte Frau Hagedorn,

Ihre Partei, die SPD, verzeichnet mit jetzt nur noch 12 Prozent ihren niedrigsten jemals auf Bundesebene gemessenen Wert, laut einer Forsaumfrage https://www.welt.de/politik/deutschland/article194545217/Forsa-Umfrage-Gruene-ueberholen-erstmals-Union-SPD-so-schlecht-wie-nie.html.

Sie sind ein wichtiger Player in der SPD, kennen die Politik wie Ihre Westentasche. Sie haben sich massiv in den Wahlkampf eingeschaltet, welche Erkenntnisse ziehen Sie aus diesem Ergebnis?
Werden Sie im Bedarfsfall in die Privatwirtschaft wechseln und dort bevorzugt in die Pharmaindustrie?
Welche neuen Gruppierungen werden möglicherweise aus der alten SPD durch Zerteilung entstehen?

Der Fall Ihrer Partei in die Bedeutungslosigkeit erscheint unaufhaltsam, man muß deshalb zu jeder Zeit Hoffnung auf Linderung (Besserung) haben.

Beste Grüße
W.

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Antwort von
SPD

Sehr geehrter Herr W.,

Vielen Dank für Ihre Frage vom 02. Juni 2019 auf abgeordnetenwatch.de. Sie erkundigen sich in dieser über meine persönliche Einschätzung zu einer Forsa-Umfrage vom 01. Juni 2019 und zur aktuellen Lage der SPD und verknüpfen dieses mit der Frage, ob ich „im Bedarfsfall“ (was immer das heißen soll) „in die Privatwirtschaft wechseln“ würde und „dort bevorzugt in die Pharmaindustrie“.

Es erschließt sich mir nicht, vor welchem Hintergrund Sie überhaupt diese letzte Frage stellen. Ich gehöre seit 2002 dem Bundestag an und ebenso lange dem Haushalts- und Rechnungsprüfungsausschuss. Ich war dort nacheinander für das Familien-, das Innen-, das Arbeits- und Sozial – und das Verkehrsministerium verantwortlich. Mit Gesundheitspolitik habe ich noch nie etwas zu tun gehabt. Insofern ist es eher absurd zu unterstellen, ich würde der Pharmaindustrie irgendwie nahestehen oder auch nur Kontakte dahin pflegen. Außerdem bin ich seit Beginn meiner Abgeordnetentätigkeit „Gläserne Abgeordnete“. Das heißt, dass ich seit 2003 sämtliche Steuerbescheide veröffentliche und damit meine Einnahmen und (mögliche, aber nicht vorhandene!) Nebentätigkeiten offenzulegen. Das gilt auch für Treffen mit Interessensvertretern (Lobbyisten), die ich auf meiner Homepage www.bettina-hagedorn.de dokumentiere. Das ist alle dort nachlesbar.

Ein „Wechsel in die Privatwirtschaft“ strebe ich unter keinen Umständen an. Ich bin seit 2002 Abgeordnete mit „Leib und Seele“ und darf seit März 2018 als Parlamentarische Staatssekretärin für Haushalt und Europa beim Bundesminister der Finanzen Verantwortung tragen – und damit in genau DEM Politikbereich. arbeiten, in dem ich schon 17 Jahre aktiv bin. Ich bin 63 Jahre (und damit z.B. jünger als Friedrich Merz!) und würde in diesem Politikfeld als Bundestagsabgeordnete für meinen Wahlkreis gerne weiter tätig sein - in welche erdenkliche Richtung sich die aktuellen Geschehnisse für die SPD, für die GroKo und für unser Land auch weiter entwickeln werden.

Dass eine „Teilung der alten SPD“ (Ihr Zitat!) ggfs. bevorsteht, kann ich absolut nicht erkennen und darum auch keinesfalls, dass „neue Gruppierungen möglicherweise aus dieser Zer-teilung entstehen“. Denn unser erklärtes Ziel ist es, geschlossen und gemeinsam als eine Partei aus diesem Tief herauszukommen – ich bin gerade in den letzten Tagen mit vielen Mitgliedern aus den SPD-Ortsvereinen zur Diskussion zusammengetroffen: ja, der Frust und die Enttäuschung sind groß, die Erwartungshaltung an eine breite Mitglieder-Beteiligung durch den kommissarischen SPD-Parteivorstand zur Neuaufstellung ist es auch, aber nirgendwo habe ich erlebt, dass unsere Mitglieder die SPD und die Ziele, für die wir seit über 150 Jahren kämpfen, in unserer heutigen Gesellschaft für „entbehrlich“ hielten. Ja, die politische Situation, in der wir sind, ist ernst und sogar beängstigend, aber davon dürfen wir uns nicht lähmen lassen, sondern an der vor fast 1 1/2 Jahren beschlossenen „Erneuerung“ festhalten und sie umsetzen. Denn genau dann habe ich die Hoffnung, dass sich unsere Situation bessern wird.

Dafür, dass wir in dieser Regierung kleiner Koalitionspartner sind, setzen wir eine – für die Menschen wichtige! - Gesetzesänderung nach der anderen durch und verbessern damit das Leben vieler Menschen ganz konkret. Und darauf sollten wir auch stolz sein! Ob nun das „Gute-Kita-Gesetz“ sowie „Starke-Familien-Gesetz“ von Bundesfamilienministerin Franziska Giffey, die Verbesserungen in der gesetzlichen Rente und für den Sozialen Arbeitsmarkt durch Arbeits- und Sozialminister Hubertus Heil oder die Wiedereinführung der Parität bei den Krankenkassenbeiträgen – um nur einige Beispiele zu nennen: Das Regierungshandeln in Berlin trägt klar eine sozialdemokratische Handschrift und der Koalitionsvertrag ist noch nicht abgearbeitet.

Auch unser Europawahlprogramm war „auf der Höhe der Zeit“. uns. Mit innovativen Ideen zur Weiterentwicklung der Europäischen Union zu einem „Sozialen Europa“ mit gemeinschaftlichen Sozialstandards oder einer gerechten Besteuerung von Großkonzernen blieben wir unserem Profil treu. Und auch die Bürgerinnen und Bürger haben die Wichtigkeit dieser Wahl verinnerlicht, was sich in einer deutlich hören Wahlbeteiligung widerspiegelte. Ja, natürlich ist es bedrückend, dass wir Sozialdemokraten von dieser gestiegenen Wahlbeteiligung nicht profitieren konnten, sondern vor allem die Grünen durch die prominent geführte Klima-Debatte. Das Bild einer ökologischen, Klima schützenden Partei haben sich die Grünen auf Bundesebene sehr lange in der Opposition aufbauen können. Jedoch bestreite ich entschieden, dass unsere Partei dieses Thema „verschlafen“ habe. In der Opposition ist es eben leichter „klare Kante“ zu zeigen und kompromisslose Forderungen aufzustellen. Nur ändert man aus der Opposition heraus nicht die Lebensbedingungen für die Menschen.

Ein Bespiel: Nur mit viel Druck auf die widerspenstige Union (mit dem CSU-Verkehrsminister Scheuer, dem CSU-Bauminister Seehofer und der CDU-Landwirtschaftsministerin Klöckner) konnte Andrea Nahles beispielsweise das „Klimakabinett“ durchsetzen und Bundesumweltministerin Svenja Schulze stellte im Februar 2019 (!) das Klimaschutzgesetz vor, das mitunter noch durch eine C02-Steuer ergänzt werden soll. Allerdings blockierte das Kanzleramt dann seitdem monatelang diesen Gesetzentwurf, bis der SPD-Umweltministerin jetzt „die Hut-schnur riss“. Es gibt viele hervorragende Klimaschutzexperten bei uns in der SPD-Bundestagsfraktion wie bspw. Mathias Miersch, der im übrigen Bundestagsabgeordneter für Ihren Wahlkreis ist. Selbst Finanzminister Olaf Scholz engagiert sich in einer vorsorgenden globalen Politik gegen den Klimawandel, was leider bisher von den Medien nicht prominent erwähnt wurde. Denn während die Kanzlerin Präsident Macron NICHT bei seiner Klimainitiative unterstützte, hat Bundesfinanzminister Olaf Scholz im April 2019 als Gründungsmitglied für Deutschland eine „Klimakoalition“ von Finanzministern aus 26 verschiedenen Ländern mit begründet, die zum 1. Treffen dieser neuen „Coalition of Finance Ministers for Climate Action“ auf Einladung der Päpstlichen Akademie der Wissenschaften im Vatikan am 27. Mai zusammenkam, um sich über die erforderlichen finanziellen Ressourcen zu verständigen und diese für Maßnahmen des Klimaschutzes bereit zu stellen. An diesem 1. Treffen durfte ich Olaf Scholz als seine Parlamentarische Staatssekretärin im Vatikan vertreten. Führende Wissenschaftler waren ebenso dabei wie die Vertreter des IWF, der Weltbank und der UNO. Welt-weite Initiativen sind dringend erforderlich.

Zum Befragungszeitraum Ihrer genannten Forsa-Umfrage vom 1. Juni war zwar noch nicht klar, dass Andrea Nahles zurücktreten wird, doch dieser „Fall“ spiegelt aus meiner Sicht eines unserer größten Probleme in der SPD wieder: Wir verdanken Andrea Nahles fachlich viel und ihr vollkommener Rückzug aus der Politik ist für die SPD – unabhängig davon, ob man sie mag oder nicht – ein großer Verlust. Menschen mit ihrer Kompetenz wachsen nicht „wie Pilze aus dem Boden“. Trotzdem kann ich es gut nachvollziehen, dass sie die Vertrauensfrage gestellt und die Flucht nach vorn angetreten hat. Ich bin sehr schockiert darüber, wie wir in der SPD zuletzt mit ihr und miteinander umgegangen sind. Andrea Nahles ist ja leider nicht die erste, die ein solches „Schicksal“ an der SPD-Spitze ereilt. Ein solcher Umgang miteinander schreckt Mitglieder und Wähler – aus meiner Sicht – gleichermaßen absolut ab. Wenn wir einerseits für mehr Solidarität werben, diese aber untereinander selber nicht vorleben und ausüben, so sorgt das nicht für Glaubwürdigkeit. Das kauft uns dann natürlich keiner mehr ab. Deshalb müssen wir unsere Umgangsformen in der Partei und der Fraktion ALLE über-denken.

Denn im Moment wirkt es so, als wären wir nur mit uns selbst beschäftigt und würden uns nur darum scheren, wer sich im Kampf um Fraktions- oder Parteivorsitz durchsetzt. Um dem entgegen zu gehen, ist es jetzt an uns, zu zeigen, was wir können und was wir diesem Land und seinen Bürgern noch INHALTLICH bieten. Und statt uns um Personalien zu streiten, ist es genau richtig, uns weiter mit wichtigen Gesetzen und auch Visionen über die GroKo hinaus auseinanderzusetzen bis wir geeignete Kandidaten gefunden haben. Sowohl Rolf Mützenich, der die Geschicke der Fraktion als dienstältester Stellvertreter kompetent und anerkannt kommissarisch leitet, als auch das Trio aus Malu Dreyer, Manuela Schwesig und Torsten Schäfer-Gümbel an der Spitze der Partei sind eine gute Stellvertretung, um die Weichen zu personellen, inhaltlichen und organisatorischen Beschlüssen mit breiter Beteiligung der Mitglieder zu stellen und uns wieder zu fangen und „die Wogen zu glätten“. Das wichtigste ist, dass wir mit den aktuellen Besetzungen es schaffen, wieder mit Inhalten die politische Debatte zu bereichern. Die Menschen, die uns im September 2017 ihre Stimme gegeben haben, erwarten zu Recht von uns durchsetzungsstarke Politik in ihrem Interesse und keine bloße „Nabelschau“.

Damit liegt ein anstrengender Weg vor uns, den wir aber gemeinsam gehen wollen. Wir müssen unsere Grundwerte und Überzeugungen wieder nach vorne bringen und weiter für den sozialen Zusammenhalt unserer Gesellschaft kämpfen.

Mit freundlichen Grüßen,
Bettina Hagedorn

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