Frage an Bettina Hagedorn von Gerhard W. bezüglich Soziale Sicherung
Sehr geehrte Frau Hagedorn,
als Vater einer erwachsenen schwerstbehinderten Tochter bitte ich Sie um eine Stellungnahme zu der aktuell geplanten Regelbedarfsstufe 3, welche laut Gesetzentwurf der Bundesregierung für Menschen mit Behinderung lediglich 80 % des Bedarfs von erwachsenen Leistungsberechtigten ohne Behinderung vorsieht. Eine 100%-Anhebung für den oben genannten Personenkreis soll in den nächsten Wochen entschieden werden.
Warum wurde dieser Teil abgekoppelt????
Das BSG hat in seinem Urteil B 8 SO 8/08 R vom 19.05.2009 bereits festgestellt: "Dies wäre jedoch mit dem allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs 1 GG nicht vereinbar, weil bezogen auf die Minderung des Regelsatzes bzw der Regelleistung wegen Annahme einer Haushaltsersparnis zwischen der Personengruppe der SGB-XII- und SGB-II-Leistungsempfänger keine sachlichen Gründe für eine unterschiedliche Behandlung erkennbar sind."
Diese geplante Kürzung des Regelsatzes ist also diskriminierend und somit verfassungswidrig.
Mit welchen Argumenten wollen Sie rechtfertigen, dass Eltern von erwachsenen Kindern mit Behinderung jetzt gezwungen werden sollen, die Sozialgerichte mit Massenklagen zu überschütten?
Mit freundlichen Grüßen
Sehr geehrter Herr Wahnfried,
mit Ihrer Frage an mich vom 25. Februar 2011 sprechen Sie ein wichtiges Thema an, das aus meiner Sicht bisher zu wenig mediale Aufmerksamkeit erhalten hat. Die Bundesregierung hat die Regelbedarfsstufe 3 für Erwachsene mit Behinderung, die in einem anderen Haushalt leben, von 100 Prozent auf 80 Prozent gekürzt. Genau wie Sie frage auch ich mich, wie diese Kürzung gegenüber den Betroffenen zu rechtfertigen sein soll.
Das Bundessozialgericht hat in dem von Ihnen erwähnten Urteil vom 19. Mai 2009 gesagt: Es gibt keinen Grund für ein unterschiedliches Existenzminimum für beide Gruppen (Empfänger von Leistungen nach SGB II bzw. SGB XII). Meine Bundestagskollegin, die ehemalige Gesundheitsministerin Ulla Schmidt, hat die Bundesministerin für Arbeit und Soziales, Ursula von der Leyen, schriftlich befragt, wie ihr Gesetzentwurf mit dieser Aussage zu vereinbaren ist. Ein Zitat aus der Antwort des Ministeriums: „Insofern wird mit dem Gesetzesbeschluss des Deutschen Bundestages eine Korrektur des genannten Urteils des Bundessozialgerichts vorgenommen.“ Die Bundesregierung hält also das Urteil des Bundessozialgerichts schlichtweg für falsch und will mit dem Gesetzesbeschluss neue rechtliche Voraussetzungen schaffen, um eben doch eine Ungleichbehandlung zu erreichen! Dabei geht es hier nicht um abstrakte rechtliche Fragen, sondern um Menschen mit Behinderung, die nicht erwerbsfähig sind und sich selbst aus ihrer finanziellen Abhängigkeitssituation vom Staat nicht befreien können. Diese Menschen bekommen ebenso bei den Leistungen für Mobilitätshilfe und den Leistungen für besondere Förderungen in Zukunft nur noch 80 Prozent.
Arbeitssuchende erhalten Transferleistungen zur Überbrückung der Erwerbslosigkeit. Für Menschen, die Leistungen nach der Regelbedarfsstufe 3 erhalten, haben diese Leistungen aber nicht den Charakter einer Überbrückung: Diese Menschen sind nicht erwerbsfähig und haben auch keine Aussicht, erwerbstätig werden zu können, sodass die Leistungen ihr regelmäßiges Einkommen darstellen. Gerade an dieser Stelle willkürlich um 20 Prozent zu kürzen ist nicht nur an Dreistigkeit kaum zu überbieten. sondern widerspricht außerdem der Grundaussage des „Hartz IV-Urteils“ des Bundesverfassungsgerichts vom 9. Februar 2010, in dem die transparente Berechnung der Regelsätzen eingefordert wurde! Die SPD steht für gleiche Teilhabechancen für Menschen mit Behinderungen, die Leistungen nach SGB XII (Regelbedarfsstufe 3) erhalten. Diese Leistungen sollen das Existenzminimum sichern und die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ermöglichen. Den Regelsatz gerade für diejenigen Menschen zusammenzukürzen, die keine Chance haben, selbst etwas an ihrer Situation zu ändern, ist eine Schande – das hat mit Sozialpolitik nichts mehr zu tun!
Deshalb hat die SPD in den Verhandlungen zur Reform der Grundsicherung und der Regelsätze im Vermittlungsausschuss im Februar 2011 als „große Lösung“ gefordert, dass alle Leistungsbezieher, die ihr 25. Lebensjahr vollendet haben, künftig als eigene Bedarfsgemeinschaft gezählt werden sollten. So würden auch Menschen mit Behinderung nach Vollendung ihres 25. Lebensjahres als eigene Bedarfsgemeinschaft zählen und so den vollständigen Satz erhalten. Schwarz-Gelb lehnte das jedoch ab. Daher forderte die SPD, zumindest Menschen mit Behinderung, die Leistungen nach der Regelbedarfsstufe 3 erhalten, als eigene Bedarfsgemeinschaft zu zählen, um ihnen den vollen Satz gewähren zu können. Auch diesen Kompromissvorschlag hat die Bundesregierung abgelehnt. Wir konnten jedoch im Vermittlungsausschuss eine Protokollnotiz durchsetzen, in der sich die Bundesregierung verpflichtet, die Regelbedarfsstufe 3 mit dem Ziel zu überprüfen, „Menschen mit Behinderungen ab dem 25. Lebensjahr den vollen Regelsatz zu ermöglichen“.
Bei der Abstimmung über das Gesetz zur Ermittlung von Regelbedarfen hat meine Kollegin Silvia Schmidt, die Behindertenbeauftragte der SPD-Bundestagsfraktion, dazu folgende persönliche Erklärung zu Protokoll gegeben:
„Während wir das Ziel des vollen Regelsatzes als unumstößlich vereinbart ansehen und nur den Weg dahin überprüfen wollen, ist das Bundesministerium für Arbeit und Soziales, BMAS, der Auffassung, dass es in erster Linie um die Ermittlung der Höhe der Bedarfe von Menschen mit Behinderungen, die gemeinsam mit anderen leben, geht, und dass damit die Höhe des Regelsatzes weiterhin völlig offen ist. Des Weiteren beabsichtigt das BMAS offenbar, eine Änderung erst auf Grundlage der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe 2013 vorzunehmen, und damit erst zum 1. Januar 2016. Diese Auslegung des vereinbarten Ergebnisses sowie die Verzögerung der Ausführung sind nicht hinnehmbar. Da zu erwarten ist, dass die schwarzgelbe Koalition weiterhin versuchen wird, die Angleichung zu verschleppen, werden wir als SPD-Bundestagsfraktion das Thema weiterhin kritisch begleiten.“
Ich selbst habe bei der namentlichen Abstimmung über den Gesetzesentwurf als einziges Mitglied der SPD-Fraktion mit „Nein“ gestimmt. Dabei verkenne ich keineswegs, dass sich die wochenlangen harten Verhandlungen zwischen der Regierung und der SPD vor allem für die Kinder und für die Kommunen gelohnt haben: im Ergebnis profitieren statt der bundesweit ca. 1,7 Millionen Kinder in Grundsicherung jetzt zusätzlich ca. 500.000 Kinder, deren Eltern einen Kinderzuschlag erhalten oder Wohngeld beziehen, von dem Bildungspaket. Dass Aufwandsentschädigungen für ehrenamtlich tätige Übungsleiter zukünftig bis zu 175 € nicht mehr auf den Regelsatz angerechnet werden ist mir besonders wichtig. Leider gibt es aber keine solide Gegenfinanzierung für die vereinbarte dauerhafte Übernahme der sogenannten „Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung“ durch den Bund zu Gunsten der Kommunen, die stufenweise aufwachsend ab 2014 mit zusätzlich 4 Milliarden Euro – Tendenz rapide steigend – vom Bund zu tragen sein wird. Deshalb bedeutet dieses Vorgehen das Verschieben eines strukturellen Defizites zulasten der Sozialversicherung, das die Bundesagentur für Arbeit ohne Anhebung des ALV-Beitrages nicht wird tragen können. Meine persönliche Erklärung zu meinem „Nein“ können Sie auf meiner Homepage (Link: http://spdnet.sozi.info/sh/ostholstein/bhagedorn/dl/11-02-25_Erklaerung_nach_PARAGRAPH_31_GOBT.pdf ) nachlesen.
Aber unabhängig von meinen Bedenken gegen die Gegenfinanzierung der Grundsicherung im Alter hoffe ich sehr, dass wir als SPD-Fraktion den vollen Regelsatz für Menschen mit Behinderungen gegen Schwarz-Gelb durchsetzen können. Aus meiner Sicht ist dieser Schritt dringend notwendig, damit die absehbare Klagewelle gegen die Regelbedarfsstufe 3 abgewendet wird und die Betroffenen einen angemessenen und diskriminierungsfreien Regelsatz erhalten - denn die Absenkung der Regelbedarfsstufe auf 80 Prozent ist nicht zu rechtfertigen.
Mit freundlichen Grüßen
Bettina Hagedorn