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Frage von Heike K. •

Frage an Wolfgang Stehmer von Heike K. bezüglich Raumordnung, Bau- und Wohnungswesen

Sehr geehrter Herr Stehmer,

ich schreibe Ihnen als SPD-Abgeordnetem im baden-württembergischen Landtag. Ihre gesamte Fraktion hat offenbar dem Beschluss zu Stuttgart 21 zugestimmt, und ich frage mich, wie Sie heute zu dem Projekt stehen.

Ich sehe, dass mit dem neuen Bahnhof ein Projekt finanziert wird, das beschlossen wurde, ohne die Bürger zu fragen, und das die Bürger ganz offensichtlich nicht wollen. Ich will es auch nicht. Was bringt es mir, wenn mein Zug einige Minuten früher am Ziel ist? Das macht die Stunde Verspätung auch nicht wett, die entsteht, wenn man mal wieder den Anschlusszug verpasst hat - wegen technischer Probleme, die entstehen, weil im Wartungsbereich zu viel Geld eingespart wurde.

Trotzdem sollen wir, die Steuerzahler, diesen Bahnhof bezahlen. Und dagegen wehren wir uns. Ich bin sehr stolz auf die Stuttgarter Bürger, dass sie ihrem Wunsch so deutlich Ausdruck verleihen.

In Zeiten, wo wir (fast) alle unter den Einsparungen im öffentlichen Bereich zu leiden haben, nicht zuletzt unter den Einsparungen bei der Deutschen Bahn, frage ich mich: Wenn es so knapp ist, warum wird das Geld dann ausgerechnet für ein Projekt rausgeworfen, das allgemein als sinnlos und überflüssig erachtet wird?

Noch bestürzter macht mich allerdings der Umgang mit den Bürgern, die sich friedlich gegen dieses dumme Vorhaben wehren. In meinem Verständnis von Demokratie haben die Demonstranten das Recht, vielleicht sogar die Pflicht, gegen diese Geldverschwendung aufzubegehren. Dass sie mit (natürlich steuerfinanzierter) Polizeigewalt davon abgehalten werden, schlägt dem Fass den Boden aus.

Vielleicht können Sie mir erklären, wie das Vorgehen des Staates im Fall Stuttgart 21 demokratisch zu rechtfertigen ist?

Vielen Dank im Voraus und freundliche Grüße
Heike Koch

PS: Ist es wahr, dass die Bäume, die gestern Nacht gefällt wurden, sogar in den Notzeiten nach dem 2. Weltkrieg von den Stuttgartern verschont blieben? Dem schnöden Mammon fallen sie zum Opfen.

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Antwort von
SPD

Sehr geehrte Frau Koch,

vielen Dank für Ihre Anfrage, in der Sie sich gegen das „Projekt Stuttgart 21“ (S 21) und die Neubaustrecke nach Ulm aussprechen.

Mit den derzeit in der Bevölkerung sehr umstrittenen Projekten befasse ich mich seit mehr als 6 Jahren im Regionalparlament und im Landtag. Derzeit erhalte ich täglich rd. 20 E-Mails und Schreiben zu diesem Thema. Deshalb entschuldigen Sie, wenn ich nicht so zeitnah antworten konnte, wie das sonst üblich ist.

Das Bauvorhaben S 21 umfasst den Neubau eines unterirdischen Bahnhofes hinter dem Bonatzbau, die neue S-Bahn-Haltestelle Mittnachtstraße, einen neuen Bahnhof am Flughafen und Messe (Filderbahnhof) und 57 km Gleise davon 33 km unterirdisch vom Hauptbahnhof bis nach Wendlingen. Im technischen und finanziellen Zusammenhang steht auch die Neubaustrecke zwischen Wendlingen und Ulm mit 60 km Strecke, davon 30,4 km Tunnelstrecke, 17 Eisenbahnüberführungen und 20 Straßenbrücken.

Trotz aller Auseinandersetzungen – und hier möchte ich mich ganz klar gegen den maßlos überzogenen Polizeieinsatz am 30.September aussprechen - unterstütze ich S 21 und die Neubaustrecke nach Ulm, weil bei Verwirklichung dieser Projekte

• Der europäische Fernverkehr verbessert wird und damit viele Inlandflüge und PKW-Kilometer vermieden werden können.
• Der Regional- und Personennahverkehr auf der Schiene in der Region Stuttgart schneller und attraktiver wird und
• die Landeshauptstadt Stuttgart 100 ha freies Gelände in der Innenstadt erhält und damit neue städtebauliche Entwicklungsmöglichkeiten, ohne neue Flächen zu versiegeln.

Dabei wird der Wirtschaftsstandort des ganzen Landes Baden-Württemberg gestärkt, neben Stuttgart und Ulm auch die Räume Karlsruhe, Reutlingen/Tübingen und vor allem die großen Städte in der Region Stuttgart. Denn seit jeher ziehen gute Verkehrsanbindungen auch die Wirtschaft an. Der jährliche Wertschöpfungszuwachs wird auf 500 Mio. Euro prognostiziert. Gleichzeitig werden 10.000 Dauerarbeitsplätze neu geschaffen. Der wirtschaftliche Nutzen der Maßnahmen übersteigt bei diesen Projekten die Kosten, sie sind damit auch volkswirtschaftlich geboten.
Der verkehrliche Nutzen drückt sich in kürzeren Reisezeiten von und nach Stuttgart und Ulm, zwischen den großen Städten der Metropolregion (z.B. Ludwigsburg und Tübingen/Reutlingen) und die Direktverbindungen zum Stuttgarter Flughafen und zur Messe aus. Der 8-gleisige Durchgangsbahnhof mit jeweils 4 Zufahrtsgleisen aus jeder Richtung wird wesentlich leistungsfähiger sein, als der bisherige Kopfbahnhof mit 16 Gleisen, aber nur 5 Zufahrtsgleisen.

Der ökologische Nutzen von S 21 liegt bei der Verlagerung des Straßen- und Luftverkehrs auf die Schiene. Insgesamt werden pro Jahr über 1 Mrd. PKW-Kilometer vermieden. Dies entspricht einer Einsparung von über 175.000 Tonnen CO2 pro Jahr.

Die 100 ha freies Gleisgelände sind für die Stadt Stuttgart von unschätzbarem Wert. 50 ha soll für Wohnen und Arbeiten, 20 ha für die Erweiterung des Schlossgartens und des Rosensteinparks und 10 ja für den Bau von Grünanlagen und öffentliche Plätze genutzt werden. Dabei entstehen rund 20.000 Arbeitsplätze und 11.000 Wohnungen. Der gesamte Immobilienwert in Baden-Württemberg wird um rund 2 Mrd. Euro steigen.

Die Finanzierung von S 21 und der Neubaustrecke bis Ulm ist gesichert. Für die alternativ ins Gespräch gebrachte Variante „Kopfbahnhof 21“ (K 21) gibt es bisher keine verlässlichen Pläne, keine seriöse Kostenschätzung und auch keine Chance für eine Finanzierung. Bei Gegenüberstellung beider Varianten hat der Verwaltungsgerichtshof die seinerzeit entworfene Variante, die der K 21 am nächsten kommt als untauglich abgelehnt.

S 21 kann sowohl die geologischen Auflagen, als auch die Sicherheitsauflagen einhalten. Bei sorgfältiger Bauausführung des 6 m unter der Erdoberfläche liegenden Bahnhofes ist eine Beeinträchtigung der rund 60 m tiefen Mineralwässer nicht zu erwarten.

Auch wenn ich mit diesen Argumenten fest zu S 21 und Neubaustrecke nach Ulm stehe, ist es notwendig, dass sich Befürworter und Gegner der Projekte an einen Tisch setzen und ihre Argumente ohne Tabus austauschen. Dies muss in beiderseitigem Respekt erfolgen.

Die bisherigen Auseinandersetzungen am Bauzaun des bereits abgerissenen Bahnhof-Nordflügels und im Schlosspark waren so heftig, dass sie an Szenen aus den 70er und 80er Jahren des letzten Jahrhunderts bei Auseinandersetzungen über den Neubau eines Atomkraftwerkes in Wyhl, einer nuklearen Wiederaufbereitungsanlage in Wackersdorf oder dem Bau der Startbahn West in Frankfurt erinnerten. Dies darf sich so nicht fortsetzen.

Die SPD Baden-Württemberg hält daher eine Volksabstimmung nach Art. 60 Abs. 3 der Landesverfassung als letzten Ausweg aus einer Krise geboten, auch wenn dieser Weg ungewöhnlich ist. Dass er zulässig ist, hat der wissenschaftliche Dienst des Bundestages in den letzten Tagen bestätigt. Sonst droht mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Spaltung der Bevölkerung mit großen Verletzungen auf beiden Seiten.

Die SPD will, dass sich die Menschen aus freien Stücken für Stuttgart 21 entscheiden, oder sich, im Wissen um alle finanziellen und entwicklungspolitischen Konsequenzen, davon verabschieden. Das Ergebnis einer fairen Volksabstimmung werden alle akzeptieren – Befürworter und Gegner des Projekts.

Mit freundlichen Grüßen

Wolfgang Stehmer MdL

PS: Ich bitte Sie weitere Fragen zu diesem Thema direkt an meine E-Mailadresse: Wolfgang.Stehmer@spd.landtag-bw.de zu schicken.