Frage an Wolfgang Neškovic von Bernd R. bezüglich Recht
Sehr geehrter Herr Neškovic,
ich stelle hiermit freundlichst folgende Frage an Sie, auch als Qualifizierter Jurist und BGH-Richter a. D.
Wenn minderjährige Kinder von Jugendamt befragt werden welche Mindestanforderung muß hierzu die Rechtsmittelbelehrung besitzen?
In den seriösen wissenschaftlichen Veröffentlichungen wurde hierzu nach meiner Kenntnis nichts vorgetragen, was juristisch belastbar wäre.
Gibt es Ihres Wissens Unterschiede hinsichtlich der Rechtsmittelbelehrungen bei ärztlichen Begutachtungen in Sorgerechtsangelegenheiten bei minderjährige Kinder nach § 159 FamFG und Befragungen durch Mitarbeiter von Polizeibehörden, Jugendämtern sowie durch psychologische und medizinische Sachverständige, Verfahrensbeistände, Staatsanwälte, Richter und Pädagogen?
Ich würde mich über eine Antwort mit Quellenangaben sehr freuen die auch § 1618a BGB und die hieraus ergebende Verwirkung zwischen Kindern und Eltern berücksichtigt.
Mit freundlichen Grüßen
Bernd Rieder
Sehr geehrter Herr Rieder,
vielen Dank für Ihre interessante Frage.
Grundsätzlich sind Kinder und Jugendliche nicht prozessfähig, d.h. sie können nicht selbst gerichtlich handeln. Sie werden vor Gericht durch ihre gesetzlichen Vertreter, meist die Eltern nach § 1629 BGB, vertreten. Aus diesem Grund müssen auch behördliche oder gerichtliche Entscheidungen, sofern sie Minderjährige betreffen, in der Regel nicht den Kindern, sondern ihren Eltern zugestellt werden. Die Rechtsbehelfsbelehrung richtet sich demnach ebenfalls an die Eltern, von daher gelten die üblichen Anforderungen nach § 58 VwGO.
Es gibt jedoch Ausnahmen bei Kindern, die ihr 14. Lebensjahr bereits abgeschlossen haben. Diese können in bestimmten Verfahren selbständig verfahrens- und beschwerdefähig sein (z.B. nach § 60 FamFG). Daher gibt es hier gemäß § 164 FamFG eine besondere Bestimmungen über die Bekanntgabe der Entscheidung an das Kind. Soweit ersichtlich gelten jedoch keine abweichenden Rechtsmittel-Belehrungspflichten.
Die Befragung auch schon jüngerer Kinder durch das Gericht ohne Anwesenheit der Eltern (meist in Anwesenheit eines Verfahrensbeistands) kann außerdem in Sorgerechtsstreits vorkommen. Voraussetzung für die Wahrnehmung des Rechts, angehört zu werden, ist natürlich, dass das Kind über die Gründe der Anhörung und seine Rolle darin Bescheid weiß. Vor der Anhörung muss das Kind deswegen nach § 159 Abs. 4 FamFG über die Materie angemessen unterrichtet werden. In einem einschlägigen juristischen Kommentar zum Familienrecht ist zu den entsprechenden Anforderungen Folgendes zu finden:
"Nach Abs. 4 S. 1 soll das Kind bei der Anhörung, soweit nicht Nachteile für seine Entwicklung oder Erziehung zu befürchten sind, über den Gegenstand und möglichen Ausgang des Verfahrens in geeigneter Weise, z.?B. durch ein Gespräch, unterrichtet werden. Damit soll einerseits erreicht werden, dass das Kind in einer Weise unterrichtet wird, die seiner Beurteilungs- und Einsichtsfähigkeit entspricht; andererseits soll vermieden werden, dass das Kind Informationen erhält, die geeignet sind, ihm zu schaden. Die Kenntnis des Sachverhalts ist erforderlich, damit das Kind von seinem Recht zur Äußerung Gebrauch machen kann.
[...] S. 2 gibt dem Kind in allen Fällen, in denen es nach Abs. 1 oder Abs. 2 anzuhören ist, ein eigenes Recht auf Äußerung und damit auf eigenständige Wahrnehmung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör. Dieses Recht kann es i.?d.?R. nur ausüben, wenn ihm zuvor der Sachverhalt nach S. 1 vom Gericht vermittelt worden ist. Aus der Gesetzesformulierung, dass dem Kind „Gelegenheit zur Äußerung“ gegeben werden müsse, folgt, dass das Kind nicht verpflichtet ist, Angaben zu machen."
(FamFG § 159, Engelhardt in: Keidel, FamFG, 17. Auflage 2011, Rn. 14 f.)
Daneben gibt es im Bereich der Jugendhilfe eine Vorschrift zur Beteiligung von Kindern (§ 8 SGB VIII), danach können Kinder auch durch das Jugendamt befragt werden. Absatz 1 dieser Vorschrift enthält in Satz 2 eine besondere Belehrungspflicht in diesen Verfahren: "Kinder und Jugendliche sind entsprechend ihrem Entwicklungsstand an allen sie betreffenden Entscheidungen der öffentlichen Jugendhilfe zu beteiligen. Sie sind in geeigneter Weise auf ihre Rechte im Verwaltungsverfahren sowie im Verfahren vor dem Familiengericht und dem Verwaltungsgericht hinzuweisen."
Dazu findet sich in einem juristischen Kommentar die Konkretisierung: "Verpflichtung zum Hinweis auf Verfahrensrechte: Die Verpflichtung umfasst sowohl konkrete Hinweise im Einzelfall als auch allgemeine Informationen über die verfahrensrechtliche Stellung von Kindern und Jugendlichen in den einzelnen Verfahren. Die Aufzählung der Verfahren ist unvollständig. Zu nennen ist außerdem das Verfahren nach dem JGG."
(Wiesner, SGB VIII, § 8, Rn. 37)
Die Einfügung der Hinweispflicht bei Kindern wird in der Gesetzesbegründung wie folgt begründet:
"Die Vorschrift überträgt die Grundsätze, die den §§ 50b, 55 c, 59 und 64 a des Gesetzes über die Angelegenheit der freiwilligen Gerichtsbarkeit zugrundeliegen, in das Verwaltungsverfahren. Entscheidungen der öffentlichen Jugendhilfe, insbesondere im Zusammenhang mit Hilfen zur Erziehung, haben erheblichen Einfluß auf die Persönlichkeitsentwicklung von Kindern und Jugendlichen und tangieren ihre Stellung als Träger der Grundrechte nach Artikel 1 und 2 GG. Deshalb sind sie entsprechend ihrem Entwicklungsstand in die jeweiligen Entscheidungsprozesse einzubeziehen. Gerade in Konfliktsituationen zwischen Kindern oder Jugendlichen und ihren Eltern ist nicht immer gewährleistet, daß Kinder und Jugendliche von ihren Eltern auf die ihnen kraft Gesetzes zustehenden Verfahrensrechte hingewiesen werden. Damit Kinder und Jugendliche davon tatsächlich Gebrauch machen können, hat das Jugendamt die Aufgabe, sie darauf hinzuweisen. Besondere Bedeutung kommt dabei dem Antragsrecht nach § 36 des Ersten Buches, aber auch etwa der Ausübung des Wunsch und Wahlrechts in bezug auf eine Einrichtung der Jugendhilfe unter weltanschaulichen Aspekten (§§ 5, 6 des Gesetzes über die religiöse Kindererziehung) zu.
Die Regelung folgt dem Entwurf einer Konvention zum Schutz der Rechte des Kindes, wie sie zur Zeit in den Gremien der Vereinten Nationen beraten wird."
(Bundestags-Drucksache 11/5948, S. 51)
Das Thema "Befragungen/Vernehmungen" von Kindern und Jugendlichen ist darüber hinaus auch im Strafrecht von Bedeutung. Für den Bereich des Straf- und Bußgeldverfahrens findet sich eine Vorgabe zur Behandlung von Minderjährigen in Nr. 19 der Straf- und Bußgeldverfahren-Richtlinien (RiStBV):
"Vernehmung von Kindern und Jugendlichen
(1) Eine mehrmalige Vernehmung von Kindern und Jugendlichen vor der Hauptverhandlung ist wegen der damit verbundenen seelischen Belastung dieser Zeugen nach Möglichkeit zu vermeiden.
(2) 1Bei Zeugen unter achtzehn Jahren soll zur Vermeidung wiederholter Vernehmungen von der Möglichkeit der Aufzeichnung auf Bild-Ton-Träger Gebrauch gemacht werden (§ 58a Abs. 1 Satz 2 Nr. 1, § 255a Abs. 1 StPO). 2Hierbei ist darauf zu achten, dass die vernehmende Person und der Zeuge gemeinsam und zeitgleich in Bild und Ton aufgenommen und dabei im Falle des § 52 StPO auch die Belehrung und die Bereitschaft des Zeugen zur Aussage (§ 52 Abs. 2 Satz 1 StPO) dokumentiert werden. 3Für die Anwesenheit einer Vertrauensperson soll nach Maßgabe des § 406f Abs. 3 StPO Sorge getragen werden. 4Mit Blick auf eine spätere Verwendung der Aufzeichnung als Beweismittel in der Hauptverhandlung (§ 255a StPO) empfiehlt sich eine richterliche Vernehmung (§§ 168c, 168e StPO). 5Bei Straftaten im Sinne des § 255a Abs. 2 Satz 1 StPO soll rechtzeitig darauf hingewirkt werden, dass der Beschuldigte und sein Verteidiger Gelegenheit haben, an der Vernehmung mitzuwirken.
(3) In den Fällen des § 52 Abs. 2 Satz 2 StPO wirkt der Staatsanwalt möglichst frühzeitig auf die Anordnung einer Ergänzungspflegschaft (§ 1909 Abs. 1 Satz 1 BGB) durch das zuständige Familiengericht (§ 152 FamFG) hin.
(4) 1Alle Umstände, die für die Glaubwürdigkeit eines Kindes oder Jugendlichen bedeutsam sind, sollen möglichst frühzeitig festgestellt werden. 2Es ist zweckmäßig, hierüber Eltern, Lehrer, Erzieher oder andere Bezugspersonen zu befragen; gegebenenfalls ist mit dem Jugendamt Kontakt aufzunehmen.
(5) Bleibt die Glaubwürdigkeit zweifelhaft, so ist ein Sachverständiger, der über besondere Kenntnisse und Erfahrungen auf dem Gebiet der Kinderpsychologie verfügt, zuzuziehen."
Daneben gelten bei minderjährigen Zeugen im Strafprozess die üblichen Zeugnisverweigerungsgründe (Angehörigenverhältnis etc.).
Insgesamt scheint tatsächlich in der Fachliteratur kaum Beschäftigung mit der Thematik "Befragung Minderjähriger durch staatliche Stellen" zu erfolgen. Dies liegt unter Umständen auch an der in Teilen relativ neuen Gesetzeslage.
Ich hoffe, Ihnen dennoch etwas weiter geholfen zu haben.
Mit freundlichen Grüßen
Wolfgang Neškovic