Frage an Winfried Kretschmann von Helmut S. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
Sehr geehrter Herr Ministerpräsident,
viele Bürger erhofften sich mit dem Regierungswechsel auch einen offenen und ehrlichen Umgang der Landesregierung mit den Bürgern. Soweit ich mich erinnere haben Sie diese Offenheit auch versprochen. Deshalb stellt sich für mich die wichtige Frage nach dem Erhalt der Grundrechte und der Verfassung.
Am 15.November 2010 gab es eine Presseerklärung von Ihnen aus der ich zitiere:"Die Finanzierungsverträge zu Stuttgart 21 und zur Neubaustrecke sind nichtig“
Gestützt haben Sie sich auf das Rechtsgutachten zu den „Finanzverfassungsrechtlichen Fragen des Stuttgarter Bahnkonflikts“ des renommierten Verfassungsrechtlers Professor Hans Meyer von der Humboldt Universität Berlin. Und Ihre Schlussfolgerung war "Daraus folgt, dass der Anteil des Landes eindeutig verfassungswidrig geleistet wurde.“
Diese Verfassungswidrigkeit nun vor dem zuständigen Gericht klären zu lassen ist hiermit die dringlichste Aufgabe. Sie ist auch vor einem Volksentscheid zu klären, da dieser niemals über ein verfassungswidrig finanziertes Projekt abstimmen kann. Diese Klärung bzgl des Artikels 104a hat auch Vorrang vor allen koalitionsinternen Vereinbarungen, denn diese können niemals über der Verfassung stehen. Ich bitte Sie inständig, in dieser elementaren Frage eine Klärung herbeizuführen. Eine Regierung, die eine Verfassungswidrigkeit der Vorgängerregierung stillschweigend duldet, läuft Gefahr, die Glaubwürdigkeit bei den Bürger komplett zu verlieren.
In der Hoffnung auf eine Antwort verbleibe ich
Hochachtunsvoll
H.Steffen
Ihr Helmut Steffen
Sehr geehrter Herr Steffen,
vielen Dank für Ihre Frage zur Verfassungsmäßigkeit der Finanzierungsverträge für das Projekt Stuttgart 21. Hierzu kann ich Ihnen mitteilen, dass diejenigen Teile der Landesregierung, welche Stuttgart 21 ablehnen, den Finanzierungsvertrag zu Stuttgart 21 weiterhin für verfassungswidrig halten. Dies liegt begründet in der Kompetenzzuordnung zwischen Bund und Ländern und dem Verbot, Bundesaufgaben mit Landesgeld zu finanzieren. Diese Auffassung wird durch das Rechtsgutachten von Prof. Dr. Dr. h.c. Hans Meyer vom 3. November 2010 zu finanzverfassungsrechtlichen Fragen des Stuttgarter Bahnhofkonflikts gestützt. Bis heute wurden die Argumente, welche für einen Grundgesetzverstoß sprechen, nicht überzeugend entkräftet. Weil aber insbesondere die Deutsche Bahn AG auf die Erfüllung des Finanzierungsvertrages besteht, müsste die umstrittene Frage der Verfassungswidrigkeit zunächst gerichtlich, und zwar letztinstanzlich, geklärt werden.
Für die Stuttgart 21 ablehnenden Teile der Landesregierung sind die rechtlichen Möglichkeiten, die Nichtigkeit des Finanzierungsvertrages wegen Verstoßes gegen das Grundgesetz (GG) selbst gerichtlich geltend zu machen, indes gering. Weil vor dem Staatsgerichtshof Baden-Württemberg grundsätzlich nur Streitigkeiten oder Meinungsverschiedenheiten über die Vereinbarkeit mit der Landesverfassung gerügt werden können, kommt ein Verfahren vor dem Landesverfassungsgericht nicht in Betracht.
Eine Anrufung des Bundesverfassungsgerichts erscheint im Ergebnis wenig erfolgversprechend: Ein verfassungsrechtlicher Bund-Länder-Streit nach Artikel 93 Absatz 1 Nr. 3 GG scheidet aus, weil keine Rechte und Pflichten aus einem verfassungsrechtlichen Rechtsverhältnis, sondern allein aus einem öffentlich-rechtlichen Vertragsverhältnis streitig sind. Bei der Beantwortung der Frage, ob das Land zu keiner weiteren Finanzierung von Stuttgart 21 verpflichtet werden und bereits Geleistetes zurückfordern kann, geht es primär um eine einfachgesetzliche Streitigkeit, die lediglich unter Beachtung von Verfassungsrecht zu beurteilen ist. Die Aussichten, in dem daher allein in Betracht kommenden nichtverfassungsrechtlichen Bund-Länder-Streitverfahren nach Artikel 93 Absatz 1 Nr. 4 GG zu obsiegen, werden indes als gering erachtet. Hinzu kommt, dass das Land ein solches Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht, aber auch eine verwaltungsgerichtliche Leistungs- oder Feststellungsklage erst nach Fassung eines entsprechenden Kabinettsbeschlusses erheben könnte. Ein Kabinettsbeschluss zur Anrufung eines Gerichts lässt sich aber politisch nicht herbeiführen, weil innerhalb der Landesregierung und der sie tragenden Koalitionsparteien zu Stuttgart 21 entgegengesetzte Positionen vertreten werden.
Die heftig umstrittene Frage nach der Verfassungsmäßigkeit bzw. –widrigkeit des Finanzierungsvertrages zu Stuttgart 21 können wir unter dieser Prämisse leider nicht letztinstanzlich gerichtlich klären lassen.
Mit freundlichen Grüßen
Winfried Kretschmann