Frage an Walter Scheuerl von Christa N. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
Sehr geehrter Herr Dr. Scheuerl,
Bürgermeister Olaf Scholz und sein Senat haben am 6. März 2012 beschlossen, einen Volksentscheid über die Vorlage der Initiatoren von "Unser Hamburg - unser Netz" mit der Bundestagswahl voraussichtlich im Herbst 2013 durchzuführen. Was halten Sie davon? Obwohl Sie mit ihrer Volksinitiative "Wir wollen lernen!" beim Volksentscheid im Sommer 2010 den damaligen Hamburger Senat bezwungen haben, habe ich Ihrer Website entnommen, dass Sie einen Volksentscheid über einen Rückkauf der Hamburger Energienetze kritisch zu sehen scheinen.
Mit freundlichen Grüßen,
C. Nettmann
Sehr geehrte Frau Nettmann,
vielen Dank für Ihre Anfrage zu einem Volksentscheid im Herbst 2013 über die Vorlage der Initiatoren von "Unser Hamburg - unser Netz" (UHUN) über einen vollständigen Rückkauf der Hamburger Energienetze zu einem geschätzten Kaufpreis in Höhe von rund 2,3 Milliarden (!) Euro:
Nach meiner rechtlichen Bewertung verstoßen Bürgermeister Olaf Scholz und sein SPD-Senat mit ihrem Beschluss vom 6. März 2012, parallel zur Bundestagswahl im Herbst 2013 einen Volksentscheid über einen Rückkauf der Hamburger Energienetze mit geschätzten Kosten für den Steuerzahler in Höhe von 2,3 Milliarden Euro durchzuführen, gleich in mehrfacher Hinsicht gegen die Hamburgische Verfassung und geltendes Recht:
1. Die Terminierung auf die Bundestagswahl verstößt gegen § 18 Absatz 4 HVAbstG, der auch für den Senat als geltendes Gesetz verbindlich ist und einen Volksentscheid „vier Monate nach Antragstellung an dem folgenden Sonntag oder gesetzlichem Feiertag“ vorschreibt. Rechtmäßiger Termin wäre also, da die Initiatoren von „Unser Hamburg - unser Netz“ (UHUN) den Antrag am 6. Januar 2012 gestellt haben, Sonntag, der 13. Mai 2012.
2. Der Bürgermeister und seine Senatoren verstoßen mit ihrer politisch-strategisch motivierten Terminierung eines Volksentscheids gegen das in Art. 64 Hamburgische Verfassung (HV) und Art. 100 Grundgesetz verankerte Normverwerfungsmonopol des Hamburgischen Verfassungsgerichtes: Nur das Verfassungsgericht könnte entscheiden, dass § 18 Absatz 4 HVAbstG trotz seines ausdrücklichen und klaren Wortlautes anders auszulegen ist und wegen der späteren Änderung von Artikel 50 Absatz 3 HV im Dezember 2008 - bei der die Verantwortlichen den § 18 HVAbstG in der Terminfrage nicht änderten - nicht mehr anzuwenden sei (für eine derartige vermeintlich „verfassungskonforme“ Auslegung ist nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts in einem Fall wie dem vorliegenden allerdings verfassungsrechtlich tatsächlich kein Raum. Kurz: Olaf Scholz missachtet mit seiner Terminierung des Volksentscheids das Normverwerfungsmonopol des Hamburgischen Verfassungsgerichts.
3. Olaf Scholz und sein Senat (Administrative) verletzen durch die Terminierung eines Volksentscheids ferner den in Artikel 50 Absatz 1 HV verankerten Haushaltsvorbehalt des Parlaments (Legislative) und damit einen wesentlichen Grundsatz der parlamentarischen Demokratie und der Gewaltenteilung. Man stelle sich vor, ein Senat umginge das Parlament (das derzeit mehrheitlich ohne Frage NICHT hinter dem Ansinnen von „Unser Hamburg - Unser Netz“ steht), indem er über einige sympathisierende Vereine eine Volksinitiative startet und sich so über einen Volksentscheid eine „Zustimmung“ zu kreditfinanzierten Ausgaben in Milliardenhöhe beschafft... - genau dies unterbindet Artikel 50 Absatz 1 HV, der von Olaf Scholz und seinem Senat mit dem Beschluss vom 6. März 2012 über die Anberaumung eines Volksentscheids missachtet wird.
4. Fakt ist: Ein „erfolgreicher“ Volksentscheid hätte erhebliche Auswirkungen auf den Haushalt der Freien und Hansestadt Hamburg. Artikel 50 Absatz 1 Satz 2 der Hamburgischen Verfassung (HV) bestimmt jedoch, dass Haushaltspläne nicht Gegenstand einer Volksinitiative sein können. Von diesem sogenannten Finanztabu werden nicht nur Haushaltsgesetze im förmlichen Sinne, sondern alle Vorlagen mit wesentlichen Auswirkungen auf den Haushalt erfasst. Das Hamburgische Verfassungsgericht (HVerfG) hat im Jahr 2005 ein Volksbegehren („VolXUni") wegen Verletzung des in Artikel 50 Absatz 1 Satz 2 geregelten Finanztabus für unwirksam erklärt (HVerfG, Az. 5/04), bei dem der Haushalt mit „nur“ 850 Mio. EUR betroffen gewesen wäre: „[...] ein derartiges finanzielles Volumen [bewirkt] einen unzulässigen Eingriff in Haushaltsangelegenheiten" (HVerfG a. a. O., S. 30).
Ich hoffe, dass ich Ihre Anfrage ausführlich und erschöpfend beantwortet habe. Sprechen Sie mich sonst gerne an.
Herzliche Grüße,
Walter Scheuerl