Frage an Ulrike Bahr von Dieter C. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
Guten Tag Frau Bahr,
erst einmal herzlichen Glückwunsch zur Wahl. Daraus ergibt sich meine Frage. Was unternehmen Sie und die von Ihnen vertretende Partei um dem Auftrag des Verfassungsgerichtes nachzukommen den Bundestag nicht aufzublähen wie dies mit jetzt 70 Abgeordneten mehr erfolgen wird.
mit freundlichen Grüßen
D. C.
Sehr geehrter Herr C.,
vielen Dank für Ihre Glückwünsche und Ihre Frage. Ich kann verstehen, dass Sie als Steuerzahler nicht erfreut sind, wenn mehr Geld aus Steuermitteln für einen größeren Bundestag aufgewendet wird. Und ich bin in einer schwierigen Situation, wenn ich als Profiteurin - nämlich als Mitglied des Bundestags - trotzdem dafür spreche. Ich will es trotzdem versuchen.
Erstens leisten wir uns als größtes Land der europäischen Union im Vergleich zu unseren Nachbarn immer noch einen durchaus "maßstabsgerechten" Bundestag. In der französischen Nationalversammlung sitzen 577 Mitglieder (bei knapp 65 Mio. Einwohnern, das ist ein Abgeordneter auf ca. 112.500 Einwohner), im britischen Unterhaus 650 Parlamentarier (knapp 66 Mio. EW, ein Abgeordneter auf 101.500 Einwohner), im polnischen Sejm gibt es 470 Abgeordnete bei einer Bevölkerung von knapp 38 Mio. (1 Abgeordneter auf knapp 81.000 Einwohner). Die 709 Abgeordneten des Deutschen Bundestags repräsentieren gut 82 Mio. Einwohner, auf jeden Abgeordneten kommen mehr als 115.000 Einwohner. Wenn man Wert darauf legt, dass die Bürgerinnen und Bürger direkten Kontakt zu ihren Abgeordneten aufnehmen können, wie wir es tun, ist das kein so großer Luxus.
Zweitens ist bei einer Wahlrechtsreform viel zu bedenken. Der Ausgleich der Überhangmandate, der zum großen Bundestag führt, ist vom Bundesverfassungsgericht mit Urteilen von 2008 und 2012 überhaupt erst gefordert und mit einer Wahlrechtsreform 2013 angeordnet worden. Das Verfassungsgericht ist mit der jetzigen Regelung einverstanden. Dagegen würde die von Bundestagspräsident Lammert vorgeschlagene Kappung des Ausgleichs bei einer Höchstgröße von 630 Abgeordneten ausschließlich der Fraktion mit den meisten Direktmandaten (das ist - zumal in Bayern - immer die Union) zugutekommen und zu einer Verzerrung des Wahlergebnisses zugunsten der Großen führen. Da ist es kein Wunder, dass dieser Reformvorschlag bei den kleineren Parteien (inklusive der SPD) nicht viele Anhänger gefunden hat. Es ist auch sehr zweifelhaft, ob er vom Bundesverfassungsgericht gebilligt worden wäre, das ja eben den Ausgleich der Überhangmandate gefordert hatte.
Natürlich könnte der Bundestag auch auf andere Weise kleiner gehalten werden, etwa indem man die Wahlkreise vergrößert oder eine reine Listenwahl einführt, also den Wettstreit von Direktkandidaten um die Direktmandate abschafft. Beides hätte aber zur Folge, dass die Beziehungen zwischen Abgeordneten und ihren Wahlkreisen schwächer werden. Darüber kann man gewiss diskutieren. Ich denke aber, dass gerade der direkte Kontakt mit Wählerinnen und Wählern und der direkte Austausch ebenfalls sehr wichtig ist, um Demokratie erfahrbar zu machen und Politikverdrossenheit entgegenzuwirken. Ich sehe Probleme, wenn ich für einen noch größeren Wahlkreis oder als reine Listenkandidatin noch alle Anfragen sorgfältig beantworten will, wenn ich weiterhin Termin- und Gesprächswünsche erfüllen und in meinem Wahlkreis Präsenz zeigen will. Wir sollten darum in der kommenden Wahlperiode darüber sprechen, wie viel uns dieser direkte Kontakt wert ist. Denn das Problem wird fortbestehen, solange die Volksparteien in ihrer Bedeutung abnehmen und die Parteienlandschaft vielfältiger wird.
Mit freundlichen Grüßen
Ulrike Bahr, MdB