Frage an Ulrich Maurer von Carolina H. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
Sehr geehrter Herr Maurer!
Mit großem Interesse habe ich gestern ihren Auftritt in der Diskussion bei Anne Will verfolgt. Nun frage ich mich zwei Dinge:
1. Sie konnten sich nicht dazu durchringen die DDR als "Unrechtsstaat" zu bezeichnen, aber was ist es für sie dann?
2. Wieso schickt ihre Partei in einer so wichtigen Frage einen "Wessi" ins Rennen?
Mit freundlichen Grüßen,
Carolina Heberling
Sehr geehrte Frau Heberling,
in der Tat halte ich von sachlich unbedarften, zumeist einseitig ideologisch verfälschten Aussagen wie der extremen Pauschalisierung mit Ausschließlichkeit - entweder Rechtsstaat oder Unrechtsstaat- nicht viel. Dieses Vorgehen wird auch dadurch nicht richtiger, dass es medial in einem Teil der Öffentlichkeit propagandistisch gut ankommt. Immerhin gilt es zu bedenken, dass es zwar viele emotionale Wirkungen aber wenig qualifizierte Aufarbeitung gibt. Außerdem plädiere ich eben nicht für eine verkürzte Sicht, bei der versucht wird, die DDR statt von ihrem Ausgangspunkt, einzig von ihrem Ende her zu begreifen und zu beurteilen.
Bei meiner Argumentation ging es mir, wie Sie sicher bemerkt haben nicht darum, dass mir das System der DDR uneingeschränkt gefallen hat. Einzig eine pauschale Verurteilung der DDR oder Reduzierung auf Willkür und Unrecht greift hier zu kurz. Was negativ war, muss genauso angesprochen werden, wie das, was positiv gewesen ist. Das betrifft übrigens auch die ehemalige BRD. Seitens vieler früherer DDR-Bürger ist die Differenzierung ein berechtigter Protest gegen die pauschale Verdammung einer erlebten Realität. Zu stark unterscheidet sich die permanente Kriminalisierung der DDR mit der eigenen Erfahrung und Erinnerung. Das Problem ist eben nicht, wie oft polemisch behauptet wird, ob und inwieweit die Menschen die DDR wiederhaben wollen, weil das ist ohnehin ahistorisch, sondern, inwieweit sie gegenüber dem System, in dem sie jetzt leben, bspw. Kälte, Rücksichtslosigkeit und das mangelnde solidarische Zusammengehörigkeitsgefühl der Ellenbogengesellschaft zurückweisen und daraus Forderungen ableiten. Daran besteht allerdings in der „Berliner Republik“ kein Interesse. Es soll eben nicht hinterfragt werden, warum zur Herstellung gleicher Lohn- und Lebensverhältnisse sowie Rentengerechtigkeit für ganz Deutschland keine finanziellen Mittel da sind, aber für selbstverschuldete Pleitebanken. Der Staatssozialismus der DDR mag ja zukunftsuntauglich gewesen sein, doch die kapitalistische BRD ist es auch. Ich hoffe jedenfalls, dass die Anzahl der Menschen in Ost und West wächst, die für Alternativen zu diesem global sich als zukunftsuntauglich erwiesenem System eintreten.
Die DDR war kein Rechtsstaat, das ist entscheidende Aussage. Die DDR ist auch nicht gescheitert an ihrem Rechtssystem, sondern an der Entwicklung von Individualität und Individualisierung entwickelter Gesellschaften – mit katastrophalen Folgen für die Motivierung der Menschen, sich für dieses System einzusetzen. Der Begriff „Unrechtsstaat“ ist erstens kein Begriff der Rechtswissenschaft und zweitens ein ideologischer Kampfbegriff der Konservatismus.
Wenn man die DDR ihrem Charakter nach einfach als Diktatur der Arbeiter und Bauern begreifen will, wie sie sich selbst verstand, muss sachkundig und natürlich auch kritisch geprüft werden, ob sie diesem Anspruch gerecht wurde, in Wort und Tat. Kurzum, ich wünschte mir, erst die gesellschaftlichen Verhältnisse der DDR, natürlich auch in ihren Außenbeziehungen beispielsweise zur damaligen BRD, zu hinterfragen, um schrittweise zu urteilen und nicht propagandistische Verurteilungen -bestenfalls garniert mit einzelnen begleitenden Untersuchungen- ohne eine komplexe tiefgründige Aufarbeitung. Wenn man sich schon nicht scheute für die Zeit vor 1945 die Bezeichnung Nationalsozialismus zu übernehmen, um wieviel mehr hätte die DDR das Recht, sich der eigenen Bezeichnung zu stellen? Und dies auch deshalb, um nicht erneut mit Pauschalisierungen und unbegründeten Verurteilungen Unrecht ins Unendliche fortzuführen.
An der Diskussion um „Ossis“ und „Wessis“ will ich mich gar nicht weiter beteiligen. Mir ist nur aufgefallen, dass diese Frage weder bei Hubertus Knabe noch bei Wolfgang Schäuble thematisiert wurde. DIE LINKE ist eine gesamtdeutsche Partei, die sich nicht über die Aufrechterhaltung der Spaltung in „Ossis“ und „Wessis“ definiert. Gerade diese Sendung hat doch gezeigt, wie groß die Vorurteile und teilweise auch die Arroganz von Bürgern der ehemaligen BRD oder Politikern gegenüber Bürgern der ehemaligen DDR noch ist. Warum sollte ich also dort nicht als „Wessi“ gerade bei dieser Debatte für mehr Zurückhaltung und Objektivität werben?
Im Übrigen darf nicht vergessen werden, dass das Gesellschaftssystem der Bundesrepublik Deutschland erhebliche und auch skandalöse Verhältnisse von Unrecht ausweist.
Ihr Ulrich Maurer