Frage an Ulrich Maurer von Peter K. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
Sehr geehrter Herr Maurer,
mit Interesse habe ich Ihren gestrigen Auftritt in der Sendung "Anne Will" (26.04. - Thema: DDR - Ein Unrechtsstaat?) verfolgt.
Insbesondere Ihr Eingangsstatement fand ich bemerkenswert: Wenn ich dieses richtig in Erinnerung behalten habe, sagten Sie, dass Westdeutsche, die nicht in der DDR gelebt haben, nicht das Recht hätten, die DDR zu be-, respektive verurteilen. Grund dafür sei ihre völlig andere Lebenswelt - es sei ein Zeichen von Arroganz und eine Schmälerung der Lebensleistung von Millionen Ostdeutschen, wenn sich Wessis wie Sie, Hubertus Knabe oder auch ich, anmaßten, über die DDR ein Urteil zu fällen.
Nun würde mich interessieren, ob Sie diese Aussage verallgemeinern würden, oder ob Sie nur für das spezielle Verhältnis von Westdeutschen zur DDR solche Zurückhaltung fordern. In anderen Worten: Darf ich, als jemand, der in den 1970ern geboren wurde, nun weiterhin über den Nationalsozialismus urteilen und diesen als Unrechtssystem verurteilen, oder wäre das eine unzulässige Schmälerung der Lebensleistung von Millionen von west- und ostdeutschen Rentnern?
Wenn ich mich nicht irre, sagten Sie selbst in der Sendung, dass Sie 1968 der APO beigetreten sind, um gegen die Kontinuität alter NS-Eliten in der BRD zu protestieren. Könnte man da nicht auch unter Zugrundelegung Ihrer eigenen Prämissen fragen, mit welchem Recht Sie sich angemaßt haben, über das Verhalten ihrer Mitmenschen zu urteilen, deren Lebenswelt Sie ja genauso wenig geteilt haben, wie die der DDR-Bürger?
Ich persönlich, als überzeugter Anhänger der freiheitlich-demokratischen Grundordung, halte sowohl das nationalsozialistische Deutschland, als auch die DDR für Unrechtsstaaten. Können Sie mir erklären, warum Sie mir im einen Fall erlauben würden, so ein globales Urteil zu fällen, OBWOHL ich nicht im NS-Deutschland gelebt habe und im anderen den westdeutschen Mund verbieten, WEIL ich nicht in der DDR gelebt habe?
Vielen Dank im Voraus,
mit freundlichen Grüßen
Peter Kainz
Sehr geehrter Herr Kainz,
selbstverständlich ist es jedem freigestellt, zu urteilen, wie es seinem Verständnis entspricht. Das schließt Sie natürlich mit ein. Einen gegenteiligen Eindruck wollte ich nicht hervorrufen. Ich habe ausschließlich meine Meinung vertreten und zu mehr Zurückhaltung sowie Objektivität aufgerufen. Und die beinhaltet eine gründliche Prüfungsphase vor einem Urteil. Ist dies schon bei einzelnen Menschen schwierig, ist dies bei gesellschaftlichen Verhältnissen noch erheblich schwieriger. Gleichwohl dürften m. E. zumindest zwei Komplexe unterschiedlicher Fakten in der unsäglichen Gleichsetzung zwischen NS-Regime und DDR erkennbar sein:
Der erste Faktenkomplex wird durch den Zeitfaktor und der zweite durch die Hinterlassenschaft geprägt.
Das NS-Regime liegt mit seinem Untergang 64 Jahre zurück. Zeit genug –sollte man meinen- zur Aufarbeitung. Im Wesentlichen stimmt dies wohl auch, Wertungen sind mehr oder weniger Gemeingut. Die Hinterlassenschaft bestand in einem zerstörten und gebrandschatzten Europa mit Millionen von Toten.
Das Ende der DDR liegt 20 Jahre zurück. Eine gründliche und unvoreingenommene Aufarbeitung des gesellschaftlichen Systems der DDR in seiner Vielschichtigkeit und Komplexität erfolgte bisher nicht. Wertungen sind deshalb überwiegend individuell und somit subjektiv geprägt. Die Hinterlassenschaft war ein auch durch den größten Teil des Staatsapparates der DDR gewährleisteter friedlicher Beitritt. Eine Tatsache, die häufig bei ausländischen Politikern mehr Gewicht erhält als im eigenen Land. Auch wenn Mängel und Fehler sowie erlebtes Unrecht in Politik und System der DDR von der Linken nicht geleugnet werden, eine sachliche, objektive und wissenschaftlich begründete Gesamtbeurteilung des Systems DDR ist bei dieser Sachlage noch nicht gegeben, eine Charakterisierung als pauschalisiert zu verurteilender Unrechtsstaat mithin ein propagandistischer Trick. Unter dem alten, längst überholten Konzept der Totalitarismustheorie wird DDR und Drittes Reich auf eine Stufe gestellt. Die himmelweiten Unterschiede zwischen den beiden Systemen würden in den Worten von den „zwei deutschen Diktaturen“ und „Unrechtsstaat“ unzulässig eingeebnet und das Nazi-Regime verharmlost.
Die DDR war kein Rechtsstaat, das ist entscheidende Aussage. Die DDR ist auch nicht gescheitert an ihrem Rechtssystem, sondern an der Entwicklung von Individualität und Individualisierung entwickelter Gesellschaften – mit katastrophalen Folgen für die Motivierung der Menschen, sich für dieses System einzusetzen. Der Begriff „Unrechtsstaat“ ist erstens kein Begriff der Rechtswissenschaft und zweitens ein ideologischer Kampfbegriff der Konservatismus.
Im Übrigen darf nicht vergessen werden, dass das Gesellschaftssystem der Bundesrepublik Deutschland erhebliche und auch skandalöse Verhältnisse von Unrecht aufweist.
Ihr Ulrich Maurer