Europäische Union: erst gemeinsame Werte, dann gemeinsamer Markt
Von Thomas Philipp Reiter
Die Wahlen zum Europäischen Parlament rücken näher. Das europäische Projekt wird hierzulande insbesondere vor dem Hintergrund des Dramas um den Brexit, also den völlig verkorksten Austritt des Vereinigten Königreichs von Großbritannien und Nordirland, kein ernstzunehmender Politiker grundsätzlich infrage stellen. Die Frage, wie dieses Projekt zukünftig politisch ausgestaltett werden soll, ist hingegen höchst streitig.
Während man insbesondere im exportorientierten Deutschland besonders stolz auf den geschaffenen europäischen Binnenmarkt ist, glauben überzeugte Europäer, dass die Europäische Union weitaus mehr ist als nur ein Markt. Sie war und ist in erster Linie eine auf gemeinsamen Werten basierende Gemeinschaft. Es sind gemeinsame Werte mehr noch als gemeinsame Interessen, die die Bürgerinnen und Bürger Europas miteinander verbinden sollten. Werte sind mehr als alles andere der Kern der europäischen Bürgergesellschaft, gewissermaßen die DNA der europäischen Identität. Der Schutz eben dieser Werte sowie der Rechte und Freiheiten des Bürgers sollte der Kern einer europäischen Werteunion sein.
Europäische Werteunion
In einer Zeit, in der Autoritarismus und Nationalismus wieder auf dem Vormarsch sind und sich die liberale Demokratie sowohl innerhalb als auch außerhalb der Europäischen Union ernsthaften Angriffen ausgesetzt sieht, müssen sich die Abgeordneten des Europäischen Parlaments mehr denn je dafür ins Zeug legen, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, individuelle Freiheiten, Grundrechte und Menschenrechte zu schützen. Die Wahrung von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und der Grundrechte sind der eigentliche Zweck der europäischen Integration, dies ist viel bedeutender als die gemeinsame Wirtschafts- und Fiskalpolitik. Die gemeinsamen Werte sind untrennbar miteinander verbunden; man kann innerhalb der EU nicht das eine ohne das andere haben. Daher ist der britische Abschied aus der EU nur folgerichtig, denn „eat the cake and keep the cake“ funktioniert eben nicht.
In Zeiten großer Unsicherheit und gesellschaftlicher Turbulenzen ist es nicht gerade einfach, diese gemeinsamen Werte zu verteidigen. Aber die Europäische Union ist eben nicht nur für Schönwetterperioden konstruiert worden. Besonders unter schwierigen Bedingungen wird die Tragfähigkeit der gemeinsamen europäischen Überzeugungen in jedem einzelnen Mitgliedsstaat auf die Probe gestellt. Vor allem in Deutschland muss man sich der wenig populären Erkenntnis stellen, dass man nicht jahrzehntelang vom europäischen Binnenmarkt profitieren kann, ohne spätestens in wirtschaftlichen und politischen Kälteperioden etwas zurückzugeben. Das bedeutet eben auch, dass man als stärkste Volkswirtschaft der Union weitaus mehr politische Verantwortung übernehmen muss als dies bislang geschah. Vor allem in der Flüchtlingskrise 2015 hätte Bundeskanzlerin Angela Merkel die europäischen Partner nicht ignorieren dürfen („Wir schaffen das“ - gemeint war: zur Not auch ohne euch), sondern sie hätte das Konzert der EU-Mitgliedsstaaten gerade in dieser Frage moderieren und letztlich führen müssen. Merkel ist an dieser Aufgabe kläglich gescheitert und hat damit auch das europäische Projekt gefährdet, wie man am abwehrenden Verhalten der osteuropäischen Mitgliedsstaaten beobachten konnte.
Europäische Wahlkreise
Die Europäische Union ist nicht nur ein ökonomisches Kraftpaket, sie besitzt auch immer noch eine große moralische Autorität, vielleicht gerade außerhalb Europas. Die Werte der EU haben viele Menschen auf der ganzen Welt inspiriert und Millionen träumen nur davon, in einer solchen freien, fairen, stabilen und demokratischen Gesellschaft leben zu dürfen, wie sie die EU über Jahrzehnte dargestellt hat. Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Grundrechte sind nicht nur philosophische Ideale. Sie sind für das Funktionieren der Europäischen Union in allen Politikbereichen von wesentlicher Bedeutung.
In logischer Konsequenz sollte es daher zukünftig auch einen gemeinsamen europäischen Wahlkreis geben, in dem Deutsche für dänische, französische, deutsche oder zum Beispiel rumänische Sozialisten, Liberale, Grüne oder Christdemokraten stimmen können. Dies würde das demokratische Niveau in Europa stärken und der Europäischen Union auch politisch zu einem gefestigteren demokratischen Zusammenhalt verhelfen. Das Europäische Parlament hat diesen Plan bereits in einem Ausschuss gebilligt: Die 2019 bevorstehenden Europawahlen beinhalten nunmehr zwei Stimmzettel. Eine für die „nationalen“ Listen, auf denen man für Kandidatinnen und Kandidaten des eigenen Landes stimmen kann, also das bekannte Wahlsystem, so wie es derzeit bereits existiert. Zusätzlich wird es einen Stimmzettel mit „europäischen Listen“ geben, auf denen die europäischen Sozialisten, Liberalen, Christdemokraten, Grünen, die extreme Rechte und die extreme Linke jeweils mit einer Mischung aus Kandidaten mit allen möglichen europäischen Nationalitäten antreten werden.
Europäische Demokratisierung
Und auch hier stellt der „Brexit“ eine Unwägbarkeit dar. Denn mit dem Ausscheiden der Briten werden 73 Sitze im Europäischen Parlament frei. Was mit eben jenen Sitzen geschehen soll, darum wird noch gestritten. Guy Verhofstadt, der Parteivorsitzende der europäischen „Allianz der Liberalen und Demokraten in Europa“ (ALDE), will damit „ein demokratischeres Europa schaffen“. Seine Idee ist es, 27 Sitze davon auf paneuropäische Listen zu verteilen. Um die restlichen Sitze soll das Parlament schrumpfen. Das Europäische Parlament hat diesen Vorschlag gebilligt. Doch die in dieser Frage maßgeblichen Staats- und Regierungschefs der EU konnten sich bislang noch nicht zu einer Entscheidung durchringen, auch oder gerade weil Emmanuel Macron und Angela Merkel als starke Verfechter dieser Idee gelten. Die Niederlande beispielsweise sind dagegen, und im Europäischen Rat der Regierungschefs ist Einstimmigkeit erforderlich. So kann ein kleines Land eine weitere Demokratisierung der europäischen Zusammenarbeit blockieren. Und so bleibt die EU für viele wie bislang eine ungeliebte Brüsseler Institution mit der man eben leben muss weil keiner weiß, wie es ohne sie gehen soll. Das aber wird weder den gemeinsamen Werten noch den Bürgerinnen und Bürgern der EU gerecht.
(Zuerst erschienen in "Tagesspiegel", 28. September 2018)
Der Hamburger Unternehmer Thomas Philipp Reiter (49) ist unter anderem Partner bei „von Beust & Coll.“ und dem „Medienhaus Brüssel“ und pendelt seit vielen Jahren zwischen Norddeutschland und Belgien. Als Generalsekretär der Bundesvereinigung Liberaler Mittelstand e.V. bemüht sich der Buchautor („Zwischen Preußen und Hamburg“; „Unser belgisches Leben“, „Hinter Stacheldraht“) in diesem Jahr um eine Nominierung als Europakandidat der FDP Schleswig-Holstein.