Frage an Tabea Rößner von Rainer L. bezüglich Soziale Sicherung
Sehr geehrte Frau Rößner,
wie ist Ihre Meinung zum bedingungslosen Grundeinkommen?
Mit freundlichen Grüßen
Rainer Locke
Sehr geehrter Herr Locke,
vielen Dank für Ihre Frage zum bedingungslosen Grundeinkommen. Es ist eine spannende Frage nach einer grundsätzlichen Neuausrichtung der Sozialpolitik. Das Grundeinkommen ist eine Idee mit sehr unterschiedlichen Umsetzungsmodellen, wie die wirtschaftliche Grundlage für ein selbstbestimmtes Leben gesichert werden kann. Die Grundidee ist, dass jeder Mensch unabhängig von seiner Leistung, seinem Einkommen oder seinem Status ein aus Steuergeldern finanziertes Grundeinkommen bezieht, dass deutlich höher als der aktuelle Harz-IV-Satz liegt.
Mit der Partei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN möchte ich eine Gesellschaft gestalten, in der niemand ausgegrenzt wird und in der alle ihre Chancen zur Entfaltung bekommen. Es geht darum, mit einem ermutigenden Sozialstaat eine Richtung zu weisen, die die Menschenwürde zum Maßstab hat. Wir wollen jedoch kein bedingungsloses Grundeinkommen, sondern eine Reform der Individualtransfers, die den Menschen zu einem selbstbestimmten Leben ermutigt. Der Schere zwischen verfestigter Armut und drastisch anwachsendem Reichtum muss entgegengetreten werden. Prekäre Beschäftigungsverhältnisse oder Arbeitslosigkeit grenzen viele Menschen mit einem zu geringen Erwerbseinkommen sozial aus. Die Wohlstands- und Aufstiegsversprechen sind leer geworden. Es ist die Frage, wie eine menschenwürdige, existenzsichernde Grundsicherung aussehen kann.
Das bedingungslose Grundeinkommen befürworte ich unter derzeitigen Bedingungen nicht, sondern ich trete für eine bedarfsorientierte Grundsicherung ein, die durch den Zugang zum Arbeitsmarkt, zu öffentlichen Gütern sowie zum gesellschaftlichen Leben zur sozialen Teilhabe befähigt. Ein bedingungsloses hohes Grundeinkommen ohne Gegenleistung ist nur durch eine hohe Belastung mit Steuern und Abgaben zu finanzieren. Der Staat muss mit seinen Ressourcen klug haushalten, Bedürftige gezielt unterstützen und mit seiner Steuer- und Transferpolitik einen entscheidenden Beitrag zu mehr Verteilungsgerechtigkeit leisten.
Es ist möglich und sinnvoll, einzelne Elemente der Grundeinkommens-Debatte in das Konzept der bedarfsorientierten Grundsicherung aufzunehmen. So ist etwa eine Brückengrundsicherung während Zeiten von Umorientierung etwa zwischen Beschäftigungen, beim Start in die Selbstständigkeit oder für Phasen der Familienarbeit sinnvoll. Um der kontinuierlich wachsenden Kinderarmut entgegenzutreten, möchten wir die Leistungen für Kinder in einer Kindergrundsicherung erhöhen.
Ein Grundeinkommen würde bedarfsbezogene Sozialleistungen nur in Teilen ersetzen, denn selbst wenn es das soziokulturelle Existenzminimum abdeckt, also wenn es neben der Sicherung des Überlebensnotwendigen auch die soziale Teilhabe ermöglicht, bleibt die Notwendigkeit spezifischer Hilfen bestehen, zum Beispiel in der Berufsförderung oder bei Behinderungen.
Eine Fixierung auf das langfristige Ziel eines Grundeinkommens würde einen falschen Schwerpunkt bei der Erneuerung des Sozialstaats legen. Höhere individuelle Transfers können einen Großteil der sozialen Ungerechtigkeiten nicht lösen, die vor allem in der Bildungsschere liegen. Im Mittelpunkt eines ermutigenden Sozialstaats muss der Ausbau und die Reform öffentlicher Güter und Dienste stehen. Reformen im Bildungssystem, in der Kinderbetreuung, der Pflege und der Arbeitsmarktförderung können sozial Ausgegrenzte befähigen und ermutigen, am sozialen Leben teilzunehmen. Ich möchte Armut nicht vermindern, sondern vermeiden.
Herzliche Grüße
Tabea Rößner