Wie bewerten Sie die Verantwortung verschiedener Parteien zum Krieg Ukraine-Russland?
Sehr geehrter Herr Jurk,
in einer anderen Frage haben Sie verneint, einen "russlandfreundlichen Kurs" zu vertreten. Daraufhin haben Sie primär das Verhalten der NATO kritisiert und Russland als Partner europäischer Verteidigungsstrategie als unabdingbar positioniert. Für die Frage, ob Russland ein Partner in Europas Sicherheit sein kann, ist maßgebend, ob Russland vertraut werden kann und ob es die Verantwortung für den momentanen Krieg trägt.
Wie sehen Sie die Verantwortungsverhältnisse des momentanen Krieges Ukraine-Russland zwischen Russland, Ukraine, NATO, USA und weiteren europäischen Staaten? (z.B. "Russland trägt die Primärschuld aber NATO trägt aufgrund von Expansion eine Sekundärschuld" oder aber "USA tragen als stärkstes Mitglied der NATO die Hauptschuld während Russland und Ukraine Sekundärschuld tragen")
Die Frage bezieht sich sowohl auf den momentanen Angriffskrieg, Annexion der Krim, Separatistenkonflikt im Donbass und Euromaidan.
Vielen Dank für Ihre Antwort.

Sehr geehrter Herr W.,
vielen Dank für Ihre Nachfrage.
Damit keine Missverständnisse entstehen: 2022 hat Russland die Ukraine angegriffen und damit ganz
klar das Völkerrecht gebrochen. Russland rechtfertigt diesen Krieg mit der Osterweiterung der NATO. Auch Die Linke hat die Ost-Erweiterung kritisiert. Die Erweiterung kann aber nicht den Angriff Russlands auf die Ukraine rechtfertigen.
Wie immer ist es nicht ratsam, eine komplexe Thematik in Kategorien zu zwängen. Auch Ihre Prämisse kann ich nicht ganz mittragen, wenn Sie schreiben "Für die Frage, ob Russland ein Partner in Europas Sicherheit sein kann, ist maßgebend, ob Russland vertraut werden kann und ob es die Verantwortung für den momentanen Krieg trägt". Trotz der zahlreichen Kriegsverbrechen der USA in Vietnam, beim Völkerrechtswidrigen Krieg im Irak, den Folterskandalen in Abu-Ghuraib und in Guantanamo, den Drohnenhinrichtungen in der ganzen Nahost-Region, deren Veröffentlichung u.a. Julian Assange als politisch Verfolgten in ein Hochsicherheitsgefängnis gebracht hat, scheint die Sicherheitspartnerschaft zu den USA ungebrochen. Trotz unzähliger Systemstürze durch die USA, z.B. in Chile, in Nicaragua (Stichwort "Iran-Contra-Affäre") und in Lybien, wird den USA weiterhin vertraut. Selbst die Enthüllungen über die weltweite Spionage (auch der eigenen Partner und Freunde) durch die NSA von Edward Snowden und das Bekanntwerden, dass das Telefon der damaligen Kanzlerin Angela Merkel abgehört wurde, haben niemals die Frage aufgeworfen, ob die USA "ein Partner in Europas Sicherheit sein kann". Die aktuellen Äußerungen von US-Präsident Donald Trump zu Kanada, Grönland und Panamakanal will ich an dieser Stelle außen vor lassen.
Nochmal: Der Angriff auf die Ukraine liegt ausschließlich in der "Verantwortung" von Russland. Die Entwicklung die dahin geführt hat, Orangene Revolution, das Assoziierungsabkommen zwischen der EU und der Ukraine, der Euromaidan, der Sturz des damaligen Präsidenten Janukowytsch, die Annexion der Krim, die Minsk Abkommen und die abgebrochenen Friedensverhandlungen in Istanbul kurz nach Kriegsbeginn, liegt aber viel breiter verteilt. Bis dahin haben sich viele Möglichkeiten einer diplomatischen Intervention geboten, die den aktuellen Krieg hätten verhindern können.
Wenn Sie berechtigterweise die Frage nach der "Verantwortung" aufwerfen, dann ist natürlich der Ausbruch des Krieges von entscheidender Bedeutung aber eben nicht nur. Ebenso, oder sogar noch mehr, geht es um die Frage, welche "Verantwortung" nicht wahrgenommen wurde, um einen Kriegsausbruch mit hundertausenden von Toten zu verhindern. Das und noch viel mehr ist gemeint, wenn Vertreter der Linken und auch ich sagen "es gibt eine Vorgeschichte". Wie ich oben erläutert hatte, sind die USA seit vielen Jahrzehnten der dominanteste Akteur in den geopolitischen Auseinandersetzungen, ohne irgendeine Scheu vor einer aggressiven sowie kriegerischen Umsetzung ihrer Interessen. Dass unser "großer Bruder" nur die Verteidigung der Demokratie im Sinne hat, glaubt inzwischen niemand mehr. Ohne das Format hier sprengen zu wollen will ich mit der Prämisse enden, dass die Annahme nicht unbegründet ist, dass die USA in der Entwicklung bis zum Kriegsausbruch nicht primär ukrainische und europäische Interessen vertreten hat und dadurch in "Verantwortung" genommen werden muss.
In diesem Sinne sehe ich die "Verantwortung" auf mehr als nur ein paar Schultern verteilt, wenn man die gesamte Entwicklung betrachtet. Ich denke, das in dieser Form zu vertreten, ist keinesfalls ein "russlandfreundlicher Kurs". Wenn man einen solchen Konflikt, der aktuell durch einen Krieg mit hundertausenden unschuldigen Toten ausgetragen wird, befrieden möchte, muss man ein Gesamtverständnis dazu entwickeln und das hat ebensowenig mit gern genutzten (nicht von Ihnen) Floskeln wie "Putin-Versteher" zu tun.