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Rolf Mützenich
SPD
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Frage von Hakop H. •

Frage an Rolf Mützenich von Hakop H. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen

Am 4.4.14 gedachte der Bundestag des Genozids in Ruanda. Werden Sie sich als Abgeordneter aus meinem Wohnbezirk dafür einsetzen, dass es am 24. April 2015 im Bundestag eine Gedenkstunde für den Genozid an 1,5 Millionen Armeniern bzw. über drei Millionen Christen im Osmanischen Reich gibt? Werden Sie sich dafür einsetzen, dass der deutsche Gesetzgeber im Unterschied zu seiner halbherzigen Resolution von 2005 wenigsens einhundert Jahre post factum die Verbrechen seines osmanischen Kriegsverbündeten beim Namen nennt und als Völkermord entsprechend der UN-Konvention bezeichnet (der die "Massaker und Deportationen" empirisch zugrunde liegen)? Viele in Deutschland lebende türkeistämmige Menschen erwarten vom deutschen Gesetzgeber eine deutlichere Positionierung als bisher - gegen Genozid, für Völkerverständigung. Das erreicht man aber nur, wenn man juristisch substantiierte Bewertungen ausspricht.

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Antwort von
SPD

Sehr geehrter Herr Hakopian,

vielen Dank für Ihre Frage. Die SPD-Fraktion wird sich selbstverständlich dafür einsetzen, dass an den Genozid an den Armeniern erinnert wird. Bereits 2005 gab es hierzu einen fraktionsübergreifenden Antrag, der m.E. nicht von seiner Aktualität verloren hat:

"Antrag der Fraktionen SPD, CDU/CSU, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und FDP
Erinnerung und Gedenken an die Vertreibungen und Massaker an den Armeniern 1915 – Deutschland muss zur Versöhnung zwischen Türken und Armeniern beitragen

Der Bundestag wolle beschließen:

Der Deutsche Bundestag verneigt sich im Gedenken an die Opfer von Gewalt, Mord und Vertreibung, unter denen das armenische Volk vor und während des Ersten Weltkrieges zu leiden hatte. Er beklagt die Taten der jungtürkischen Regierung des Osmanischen Reiches, die zur fast vollständigen Vernichtung der Armenier in Anatolien geführt haben. Er bedauert auch die unrühmliche Rolle des Deutschen Reiches, das angesichts der vielfältigen Informationen über die organisierte Vertreibung und Vernichtung von Armeniern nicht einmal versucht hat, die Gräuel zu stoppen.

Der Deutsche Bundestag ehrt mit diesem Gedenken die Bemühungen all der Deutschen und Türken, die sich unter schwierigen Umständen und gegen den Widerstand ihrer jeweiligen Regierung in Wort und Tat für die Rettung von armenischen Frauen, Männern und Kindern eingesetzt haben. Besonders das Werk von Dr. Johannes Lepsius, der energisch und wirksam für das Überleben des armenischen Volkes gekämpft hat, soll dem Vergessen entrissen und im Sinne der Verbesserung der Beziehungen zwischen dem armenischen, dem deutschen und dem türkischen Volk gepflegt und erhalten werden.

Der Deutsche Bundestag ist sich aus langer eigener Erfahrung darüber bewusst, wie schwer es für jedes Volk ist, zu den dunklen Seiten seiner Vergangenheit zu stehen. Er ist aber fest davon überzeugt, dass eine ehrliche Aufarbeitung der Geschichte notwendig ist und die wichtigste Grundlage für Versöhnung darstellt. Dies gilt insbesondere im Rahmen einer europäischen Kultur der Erinnerung, zu der die offene Auseinandersetzung mit den dunklen Seiten der jeweiligen nationalen Geschichte gehört.

Vor diesem Hintergrund bedauert der Deutsche Bundestag, dass heute in der Türkei eine umfassende Diskussion über die damaligen Ereignisse im Osmanischen Reich immer noch nicht möglich ist und Wissenschaftler und Schriftsteller, die sich mit diesem Teil der türkischen Geschichte auseinandersetzen wollen, strafrechtlicher Verfolgung und öffentlicher Diffamierung ausgesetzt sind.

Der Deutsche Bundestag sieht allerdings auch erste positive Anzeichen, dass sich die Türkei im Sinne der erwähnten europäischen Kultur der Erinnerung zunehmend mit der Thematik beschäftigt. Beispiele dafür sind:

- Die Große Türkische Nationalversammlung hat erstmals türkische Bürger armenischer Abstammung zu Gesprächen über die Verbrechen an den Armeniern und die türkisch-armenischen Beziehungen eingeladen.
- In Wien fand ein türkisch-armenischer Frauendialog statt.
– Erste Kontakte zwischen türkischen und armenischen Historikern führten zum Beginn eines Dokumentenaustauschs.
– Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan eröffnete mit dem armenischen Patriarchen Mesrob das erste armenische Museum der Türkei in Istanbul und schlug öffentlich die Einrichtung einer bilateralen türkisch-armenischen Historiker-Kommission vor.

In diesem Zusammenhang erfüllt es den Deutschen Bundestag aber erneut mit tiefer Sorge, dass die Armenier-Konferenz international angesehener türkischer
Wissenschaftler, die vom 25. bis 27. Mai 2005 in Istanbul stattfinden sollte, durch den türkischen Justizminister unterbunden wurde und die von der türkischen Regierungsmeinung abweichenden Positionen dieser türkischen Wissenschaftler als „Dolchstoß in den Rücken der türkischen Nation“ diffamiert wurden. Der Vorschlag von Ministerpräsident Erdogan, eine gemeinsame türkischarmenische Historiker-Kommission einzurichten, kann nur dann Erfolg haben, wenn er auf der Basis eines freien und öffentlichen wissenschaftlichen Diskurses umgesetzt wird.

Auch Deutschland, das mit zur Verdrängung der Verbrechen am armenischen Volk beigetragen hat, ist in der Pflicht, sich der eigenen Verantwortung zu stellen. Dazu gehört, Türken und Armenier dabei zu unterstützen, über die Gräben der Vergangenheit hinweg nach Wegen der Versöhnung und Verständigung zu
suchen. Seit langem haben sich vor allem die beiden großen Kirchen in Deutschland für eine Integration der Armenier aus der Türkei eingesetzt. Die hier entstandenen armenischen Gemeinden bieten Möglichkeiten der Begegnung und des Gedenkens. Gerade angesichts der großen Anzahl der in Deutschland lebenden Muslime aus der Türkei ist es eine wichtige Aufgabe, sich die Geschichte zu vergegenwärtigen und dadurch auch zur Aussöhnung beizutragen.
Die Auseinandersetzung mit diesen historischen Ereignissen hat aber auch unmittelbare Bedeutung für die Gegenwart. Heute ist die Normalisierung der Beziehungen zwischen der Republik Türkei und der Republik Armenien für die Zukunft der ganzen Region von besonderem Interesse. Was dringend notwendig ist, sind vertrauensbildende Maßnahmen auf beiden Seiten im Sinne der OSZE-Prinzipien. So könnte z. B. die Öffnung der Grenze durch die Türkei die Isolierung Armeniens aufheben und die Aufnahme diplomatischer Beziehungen befördern.

Deutschland kommt aufgrund seiner historischen Rolle in den deutschtürkisch- armenischen Beziehungen heute eine besondere Verpflichtung im Rahmen der Nachbarschaftsinitiative der EU zu. Ziel muss sein, dabei mitzuhelfen, eine Normalisierung und Verbesserung der Lage zwischen Armenien und der Türkei zu ermöglichen und damit einen Beitrag zur Stabilisierung der Kaukasus-Region zu leisten. Einen wichtigen Beitrag zur Erinnerung können die Bundesländer leisten. Aufgabe der Bildungspolitik ist es, dazu beizutragen, dass die Aufarbeitung der Vertreibung und Vernichtung der Armenier als Teil der Aufarbeitung der Geschichte ethnischer Konflikte im 20. Jahrhundert auch in Deutschland erfolgt.

Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,
– dabei mitzuhelfen, dass zwischen Türken und Armeniern ein Ausgleich durch Aufarbeitung, Versöhnen und Verzeihen historischer Schuld erreicht
wird,
- dafür einzutreten, dass sich Parlament, Regierung und Gesellschaft der Türkei mit ihrer Rolle gegenüber dem armenischen Volk in Geschichte und Gegenwart vorbehaltlos auseinandersetzen,
- sich für die Bildung einer Historiker-Kommission einzusetzen, an der außer türkischen und armenischen Wissenschaftlern auch internationale Experten beteiligt sind,
- sich dafür einzusetzen, dass nicht nur die Akten des Osmanischen Reiches zu dieser Frage allgemein öffentlich zugänglich gemacht werden, sondern auch die von Deutschland der Türkei übergebenen Kopien aus dem Archiv des Auswärtigen Amts,
- sich für die tatsächliche Durchführung der in Istanbul geplanten, aber auf staatlichen Druck hin verschobenen Konferenz einzusetzen,
- sich für die Gewährung der Meinungsfreiheit in der Türkei, insbesondere auch bezüglich des Schicksals der Armenier, einzusetzen,
dabei zu helfen, dass die Türkei und Armenien ihre zwischenstaatlichen Beziehungen normalisieren.

Begründung

Vor 90 Jahren, am 24. April 1915, wurde auf Befehl der das Osmanische Reich lenkenden jungtürkischen Bewegung die armenische politische und kulturelle Elite Istanbuls verhaftet, ins Landesinnere verschleppt und zum großen Teil ermordet. Dieses Datum wurde zum Gedenktag der Armenier in aller Welt für die Vertreibungen und Massaker an den armenischen Untertanen des Osmanischen Reiches, die bereits Ende des 19. Jahrhunderts, verstärkt aber dann im Ersten
Weltkrieg stattfanden. Die rekrutierten armenischen Soldaten der osmanischen Armee wurden zu Beginn des Kriegseintritts des Osmanischen Reichs in Arbeitsbataillone zusammengefasst und mehrheitlich ermordet. Frauen, Kinder und Alte wurden ab Frühjahr 1915 auf Todesmärsche durch die syrische Wüste geschickt. Wer von den Verschleppten noch nicht unterwegs ermordet worden oder umgekommen war, den erreichte dieses Schicksal spätestens in den unmenschlichen Lagern in der Wüste um Deir ez Zôr. Massaker wurden auch von eigens dafür aufgestellten Spezialeinheiten ausgeführt. Widerstand ranghoher türkischer Beamter gegen dieses Vorgehen wie auch Kritik aus dem osmanischen Parlament begegnete das jungtürkische Regime mit brutaler Ablehnung. Viele Gebiete, aus denen die christlichen Armenier vertrieben worden waren, wurden mit Kurden und muslimischen Flüchtlingen der Balkankriege besiedelt. Ebenso waren Angehörige anderer christlicher Volksgruppen, insbesondere aramäisch/assyrische und chaldäische Christen, aber auch bestimmte muslimische Minderheiten von Deportationen und Massakern betroffen.

Den Deportationen und Massenmorden fielen nach unabhängigen Berechnungen über 1 Million Armenier zum Opfer. Zahlreiche unabhängige Historiker, Parlamente und internationale Organisationen bezeichnen die Vertreibung und Vernichtung der Armenier als Völkermord. Die Rechtsnachfolgerin des Osmanischen Reichs, die Republik Türkei, bestreitet bis heute entgegen der Faktenlage, dass diesen Vorgängen eine Planmäßigkeit zugrunde gelegen hätte bzw. dass das Massensterben während der Umsiedlungstrecks und die verübten Massaker von der osmanischen Regierung gewollt waren. Die zugegebene Härte gegen die Armenier wurde stets mit der Tatsache gerechtfertigt, dass sowohl 1878 als auch 1914/1915 viele Armenier auf Seiten Russlands gegen die Türkei gekämpft haben und dass die Gefahr bestanden hätte, dass die Armenier auch im Ersten Weltkrieg dem Osmanischen Reich in den Rücken fallen würden. Andere türkische Rechtfertigungen berufen sich auf armenische Gewaltanwendung gegen Türken, die beim bewaffneten Widerstand gegen die türkischen Umsiedlungsmaßnahmen vorkamen. Auch die bis in die 1980er Jahre von Armeniern gegen Türken verübten terroristischen Anschläge werden zur Rechtfertigung der türkischen Position herangezogen.

Insgesamt wird das Ausmaß der Massaker und Deportationen in der Türkei immer noch verharmlost und weitgehend bestritten. Diese türkische Haltung steht im Widerspruch zu der Idee der Versöhnung, die die Wertegemeinschaft der Europäischen Union leitet. Auch heute noch sind Historiker in der Türkei bei der Aufarbeitung der Geschichte der Vertreibung und Ermordung von Armeniern nicht frei und kommen trotz Lockerung der bisherigen Strafbarkeit nach wie vor unter großen Druck. Das Deutsche Reich war als militärischer Hauptverbündeter des Osmanischen Reiches ebenfalls tief in diese Vorgänge involviert. Sowohl die politische als auch die militärische Führung des Deutschen Reichs war von Anfang an über die Verfolgung und Ermordung der Armenier informiert. Die Akten des Auswärtigen Amts, die auf Berichten der deutschen Botschafter und Konsuln im Osmanischen Reich beruhen, dokumentieren die planmäßige Durchführung der Massaker und Vertreibungen. Trotz dringender Eingaben vieler deutscher Persönlichkeiten aus Wissenschaft, Politik und den Kirchen, darunter Politiker wie Philipp Scheidemann, Karl Liebknecht oder Matthias Erzberger und bedeutende Persönlichkeiten aus der evangelischen und katholischen Kirche wie z. B. Adolf von Harnack und Lorenz Werthmann, unterließ es die deutsche Reichsleitung, auf ihren osmanischen Verbündeten wirksamen Druck auszuüben. Als der evangelische Theologe Dr. Johannes Lepsius am 5. Oktober 1915 im Deutschen Reichstag die Ergebnisse seiner im Juli/August 1915 in Istanbul durchgeführten Recherchen vortrug, wurde das gesamte Armenier-Thema von der deutschen Reichsregierung unter Zensur gestellt. Ebenso wurde 1916 von der deutschen Militärzensur die Dokumentation von Johanneds Lepsius „Bericht über die Lage des Armenischen Volkes in der Türkei“ verboten und beschlagnahmt. Die von Lepsius direkt an die Abgeordneten des Deutschen Reichstags gesandten Exemplare dieser Dokumentation wurden durch die
Behörden abgefangen und den Abgeordneten erst nach dem Krieg 1919 ausgehändigt. Diese fast vergessene Verdrängungspolitik des Deutschen Reiches zeigt, dass dieses Kapitel der Geschichte auch in Deutschland."

Berlin, den 15. Juni 2005
Franz Müntefering und Fraktion
Dr. Angela Merkel, Michael Glos und Fraktion
Katrin Göring-Eckardt, Krista Sager und Fraktion
Dr. Wolfgang Gerhardt und Fraktion"

Mit freundlichen Grüßen
Rolf Mützenich

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