Frage an Reinhard Bütikofer von Peter S. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
Sehr geehrter Herr Bütikofer,
wenn ich richtig informiert bin, unterstützen die Grünen für die Europawahlen 2019 wie schon 2014 europäische Spitzenkandidat(inn)en für die Präsidentschaft der EU-Kommission.
Könnte man bei den Wahlen 2019 nicht noch einen Schritt weitergehen? Die Parteien könnten doch dann nicht nur mit europäischen Spitzenkandidat(inn)en antreten, sondern auch mit nationalen Spitzenkandidat(inn)en für die Besetzung der übrigen Kommission. Wahlen sind für die Menschen interessanter, wenn sie das Gefühl haben, dabei über das künftige Spitzenpersonal abzustimmen. Von daher wäre es nur konsequent, wenn 2019 nicht nur personelle Alternativen für die Kommissionsspitze angeboten werden, sondern auch für die Besetzung der übrigen Kommission.
Der EU-Vertrag gibt lediglich vor, dass die Mitgliedstaaten Vorschläge für die Besetzung der Kommission machen, schreibt aber nicht vor, wie diese zustande kommen. Dies könnte dann so konkretisiert werden, dass die Parteien vor der Wahl sagen, wen sie als künftige Kommissarin oder künftigen Kommissar im Auge haben. Nach der Wahl könnten dann die neu gewählten deutschen EP-Abgeordneten zusammentreten und abstimmen. Ein solcher Mehrheitsbeschluss der EP-Abgeordneten wäre rechtlich gesehen natürlich nur eine Empfehlung an die Bundesregierung, aber politisch bindend. Selbstverständlich bliebe vor einer Ernennung noch die Hürde des Anhörungsverfahrens im Europäischen Parlament. Das Verfahren würde also das EP als Ganzes nicht schwächen, aber der künftigen Kommissarin/dem künftigen Kommissar größere Legitimität und politische Stärke verleihen.
Jo Leinen, Berichterstatter zum Wahlrecht im Europäischen Parlament, zeigt sich aufgeschlossen für die Idee:
https://www.abgeordnetenwatch.de/profile/jo-leinen/question/2018-02-06/296840
Was halten Sie davon?
Mit freundlichen Grüßen
P. S.
Sehr geehrter Herr S.,
vielen Dank für ihre Anfrage.
Ich bin von ihrem Vorschlag nicht überzeugt. Mal ganz davon abgesehen, dass es aktuell einfach zu kurz wäre um bis zur nächsten Bestellung einer europäischen Kommission 2019 eine solche Veränderung vorzunehmen, sprechen aus meiner Sicht u. a. folgende Punkte gegen ihre Idee:
Das Spitzenkandidatenverfahren zur Besetzung des Präsidenten zielt darauf ab den politischen Alternativen, für die die verschiedenen europäischen Parteien stehen, jeweils ein Gesicht zu geben, dabei die Rolle des Europäischen Parlaments zu stärken und den Kommissionspräsidenten weniger vom Wohlwollen des Europäischen Rates abhängig zu machen. Ihr Vorschlag würde, wie ich ihn verstehe, die personelle Zuspitzung konterkarieren, 7, 8 oder 9 europäische Parteien würden jeweils 27 verschiedene Kommissare vorschlagen. Das wird ja total unübersichtlich. Zum anderen wird der Kommissionspräsident geschwächt, wenn er nicht mehr, wie bisher, seinen Kommissaren die entsprechenden Ressorts zuweisen kann. Und auch die Rolle des Europäischen Parlaments wird geschwächt, wenn Kommissarsanwärter*innen nicht nur auf die Rückendeckung ihrer nationalen Regierungen verweisen könnten, um ihre jeweiligen Ambitionen zu bekräftigen, sondern auch noch mit Wahlergebnissen hausieren gehen würden, die in Wirklichkeit für die Qualifikation gar nicht viel besagen. Ich stelle mir praktisch vor, wie das wäre, wenn die europäischen Grünen so verfahren wollten, wie sie es vorschlagen. Aus manchen Ländern hätten wir gar keine relevanten Kandidat*innen (das gilt für die meisten europäischen politischen Parteien - nur Christdemokraten und Sozialdemokraten haben gegenwärtig überhaupt die Chance aus allen Mitgliedsländern Europaabgeordnete zu haben). Außerdem: Wer sollte denn entscheiden ob der deutsche oder der französische Spitzenkandidat der Grünen für die Rolle des Umweltkommissars nominiert werden soll und ob der maltesische oder der zypriotische Kandidat für die Rolle des Flüchtlingskommissars antreten muss. Schließlich ist es keineswegs gegeben, dass gute Kommissare aus den Reihen der Europaabgeordneten kommen müssen. Hätte man aber überall Spitzenkandidaten, die nicht zum Europäischen Parlament antreten, dann würde die Rolle der Europaabgeordneten in der Europawahl völlig überschattet.
Generell bin ich nicht der Meinung, dass es zum Besten wäre, wenn wir überall parlamentarische und repräsentative Verfahren durch direktdemokratische ablösen würden. Ich glaube, dass es auf die Mischung ankommt.
Mit freundlichen Grüßen
Reinhard Bütikofer