Frage an Rainer Brüderle von Helmut G. bezüglich Wirtschaft
Sehr geehrter Herr Brüderle,
ich werde immer wieder gefragt, warum wir in unserem Land eine Zwangsmitgliedschaft in den Kammern brauchen. Von Ihnnen als gelerntem Diplomvolkswirt und ehem. FDP-Wirtschaftsminister erhoffe ich mir eine plausible Antwort.
Wenn ich mir so einige %-Zahlen anschaue, die bei den Vollversammlungswahlen der IHK herauskamen, dann fällt mir der Kommentar keines geringeren als dem Hauptgeschäftsführer der IHK Köln, Herrn Dr. Herbert Ferger ein:
"Die Vollversammlung braucht die demokratische Legitimation durch eine hohe Wahlbeteiligung, damit sie ihre Funktion- die Artikulation und die Vertretung der Interessen der hiesigen Wirtschaft- glaubhaft erfüllen kann."
Werden bei den Vollversammlungswahlen "hohe Wahlbeteiligungen" erreicht?--- Ergo:...........
Sie als Fachmann gefragt: Was ist überhaupt das "Gesamtinteresse der Wirtschaft" - was vertreten werden soll!?
Erwarte gerne Ihr Antwort und verbleibe
mit freundlichem Gruß
Helmut Gebske
Sehr geehrter Herr Gebske,
die Diskussion um die Pflichtmitgliedschaft bei den Industrie- und Handelskammern ist ein Dauerbrenner. Die Organisation der Unternehmen in Deutschland in einer Selbstverwaltungskörperschaft soll Sachverstand und Interessen bündeln, sie strukturiert und ausgewogen in den wirtschaftspolitischen Willensbildungsprozeß einbringen und gleichzeitig den Staat in der Wirtschaftsverwaltung entlasten. Die Selbstverwaltung der Wirtschaft kann derzeit aber nur im Rahmen einer Pflichtmitgliedschaft funktionieren. Anderenfalls müßten Aufgaben, die den Kammern durch Gesetz und Verordnung zugewiesen sind, von der Staatsbürokratie erfüllt werden. Der Staat müßte aus öffentlichen Mitteln ein umfangreiches Leistungsspektrum bereit halten: Die Betreuung von 850.000 Auszubildenden, die Abnahme von jährlich 290.000 Zwischenprüfungen und 330.000 Abschlußprüfungen, die öffentliche Bestellung und Betreuung von etwa 7000 Sachverständigen und die Beantwortung von rund 110.000 Anfragen von Gerichten, Unternehmen und Privatpersonen nach geeigneten Sachverständigen, die Ausstellung von jährlich etwa 1,2 Millionen Exportdokumenten sowie die ca. 350.000 Existenzgründungsberatungen, die zurzeit von den Kammern durchweg ohne Zusatzgebühren erbracht werden. Daneben wäre fraglich, was mit den Einigungsstellen für Wettbewerbsstreitigkeiten bei den Kammern passieren würde. Dort werden immerhin 1.800 Fälle jährlich verhandelt und mit einer Erfolgsquote von rund 50 Prozent abgeschlossen. Auch gutachterliche Stellungnahmen zu Förderanträgen, zur Eintragungsfähigkeit im Handelsregister oder zur Bauleitplanung müßten anders organisiert werden. All diese Dinge liegen im Interesse der Wirtschaft. Nach Einschätzung der FDP ist die staatliche Bereitstellung all dieser Leistungen keine Alternative. Vermutlich würden die gesamtwirtschaftlichen Kosten für diese Leistungsbereitstellung steigen. Diese Kosten müßten durch höhere Abgaben und Steuern auch seitens der heutigen Mitgliedsunternehmen der Kammern getragen werden. Insofern halten wir – unabhängig von der Notwendigkeit die Kammertätigkeiten auch kritisch zu begleiten und vom stetigen Reformbedarf in den Kammern – die Pflichtmitgliedschaft für nach wie vor sachgerecht.
Natürlich haben unterschiedliche Unternehmen auch unterschiedliche Interessen und Forderungen an den Staat. Darüber hinaus gibt es aber Dinge, die allen Unternehmen am Herzen liegen. Dazu gehören ein funktionierender Arbeitsmarkt, ein gutes Bildungssystem, das fähige Arbeitnehmer und ausbildungsreife Schulabgänger hervorbringt, eine möglichst wenig bürokratische öffentliche Verwaltung, ein durchschaubares Steuersystem, weitreichende Gewerbefreiheit – alles, was Deutschland als Wirtschaftsstandort attraktiv macht. Diese Standortbedingungen zu verbessern oder gegenüber der Politik dafür zu werben, ist nicht nur im Gesamtinteresse der Wirtschaft, Arbeitsplätze, Wachstum und Wohlstand nützen allen Bürgern.
Mit freundlichen Grüßen
Rainer Brüderle