Frage an Petra Sitte von Urda S. bezüglich Menschenrechte
Was sagst du zum aktuellen BMI-Leak, Petra?
Liebe Urda Sieber,
ich finde den Aufsatz aus dem BMI aus mehreren Gründen besorgniserregend. Die Forschheit, mit der ein Ministeriumsmitarbeiter auf eigene Faust ein Papier mit seinen Einschätzungen erstellt und dann von seinem BMI-Account aus an sämtliche Führungsstellen in Bund und Ländern vermailt, ist bemerkenswert. Der Autor, Herr Stefan Kohn, weist selbst darauf hin, dass er „ohne sichere Datenbasis“ arbeitet, kommt dann aber zu allerlei Schlüssen, an denen es seiner Meinung nach „keinen vernünftigen Zweifel“ geben könne. Er stützt seine Meinungen auf Experten, die er „zufällig“ ausgewählt haben will, die aber durchweg den bisherigen Kurs in der Pandemie-Bekämpfung kritisch einschätzen, und erklärt, das Ergebnis seiner Überlegungen könne daher „nicht repräsentativ sein“. All diese Einwände haben Herrn Kohn nicht davon abgehalten, sich ohne Abstimmung mit den anderen zuständigen Stellen im Bundesinnenministerium an zahlreiche Instanzen und damit de facto an die Öffentlichkeit zu wenden. Das ist ein äußerst ungewöhnlicher Vorgang. Herr Kohn hat sich schon 2015 gegen den Kurs der Bundesregierung in der damaligen Syrienkrise ausgesprochen und später für den Vorsitz der SPD kandidiert. Ihm ist also ein gewisser persönlicher, politischer Ehrgeiz nicht fremd. Der Zeitpunkt seiner Veröffentlichung fällt nun wohl nun wohl nicht zufällig zusammen mit den bundesweiten Protesten gegen die Einschränkungen, die mit der Pandemie-Bekämpfung einhergehen.
Inhaltlich schreibt Herr Kohn sehr richtig, dass wir im Umgang mit Pandemien wie der jetzigen sämtliche Prognosen nur einer „Plausibilitätsprüfung“ unterziehen können. Die Zukunft, zumal wenn sie von menschlichem Verhalten und einem noch nicht vollständig bekannten Virus beeinflusst wird, lässt sich eben nicht berechnen, sondern nur plausibel prognostizieren. Es ist bedauerlich, aber nicht zu vermeiden, dass sich Vorhersagen zu einem neuartigen Virus mit jeder neuen Erkenntnis verändern können. Das haben wir in den vergangenen Monaten in Deutschland und international erlebt, und diese unterschiedlichen Einschätzungen und Ratschläge haben mitunter den Eindruck eines Schlingerkurses vermittelt. Offensichtlich ist es nicht so gewesen, dass nur eine Position gehört und alle anderen ignoriert wurden. Die Bekämpfung der Pandemie wurde noch bis in den März hinein von verschiedenen Seiten als zu lasch und unvorsichtig kritisiert.
Schwierig umzusetzen finde ich allerdings Herrn Kohns Rat, „nicht nur solche Prognosen heran[zu]ziehen, die sich im Nachhinein als falsch erweisen werden“. Denn weder Herr Kohn noch die Experten, die er zu Rate gezogen hat und unter denen sich kein einziger Virologe befindet, noch sonst irgendjemand kann eben leider heute mit abschließender Sicherheit sagen, welche Prognosen sich morgen als richtig oder falsch erweisen werden. Die Warnungen, die er zu den möglichen negativen Nebenwirkungen des Shutdown (Zunahme von Psychosen, Zunahme von Missverständnissen aufgrund von Atemschutzmasken etc.) ausspricht, basieren allesamt auf Schätzungen und „vielfältigsten Thesen“, die er zum Teil der „Fachdiskussion im Internet“ entnommen hat. Auf dieser Grundlage und vor dem Hintergrund von aktuell rund 90.000 Todesfällen zum Beispiel in den USA, deren Regierung die Corona-Pandemie von Anfang an als Fake News und Fehlalarm abgetan hat, wie Herr Kohn das empfiehlt, finde ich seinen gezielten „Leak“ unseriös und wenig hilfreich.
Was meiner Meinung nach jetzt wichtig ist, um Gesundheit und Lebensqualität zu sichern, sind gezielte Maßnahmen, um die sozialen und wirtschaftlichen Einbußen, die Menschen aufgrund der Krise erleiden, einzudämmen. Wir brauchen Hilfen für alle, die ihr Einkommen ganz oder teilweise verloren haben, einen Schutz vor Mietschulden, ausreichende medizinische Ausrüstung für alle Berufe, die in der gegenwärtigen Situation als besonders gefährlich angesehen werden müssen, weil sie mit viel Kontakt mit (potentiell) Infizierten einhergehen. Und der beste Weg aus dem wirtschaftlichen Tief besteht darin, endlich den Investitionsstau der Kommunen, im Gesundheitswesen, in der Bildung und in vielen anderen Bereichen aufzulösen und dort Jobs zu schaffen, wo sie benötigt werden und seit vielen Jahren aufgebaut wurden. Die Krise sollte als Weckruf dafür wirken, die wirklich essentiellen Bereiche unseres Gemeinwesens wieder zu stärken und aufzubauen.