Frage an Otto Fricke von Hans S. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
Sehr geehrter Herr Fricke,
die Einführung einer Steueridentifikationsnummer ist ein weiterer Schritt auf dem Weg zum Orwell- schen gläsernen Bürger.
Sehen Sie bei Ihrer entuellen Wiederwahl in den Bundestag Möglichkeiten, die Bürgerrechte zu stärken und der Tendenz des "Bürgers unter Generalverdacht" ent- gegenzuwirken.
Die Wahlkreismitgliederversammlung des Wahlkreises 111 hat Sie am 27.8.2008 mit geradezu "sozialistischen" Mehrheiten nominiert --- sehen Sie dieses Votum auch als Verpflichtung das soziale Profil der FDP im Sinne Friedrich Naumanns zu schärfen ?
Mit verbindlichem Gruss
Hans Stein
Sehr geehrter Herr Stein,
haben Sie vielen Dank für Ihre beiden Fragen.
Zur ersten: Natürlich sind eine andere Justiz- und Innenpolitik möglich. Die Beschränkung der Freiheitsrechte der Bürger hat eine bestürzende Dynamik gewonnen, die sich auf breiteste Regelungsbereiche erstreckt. Diese Entwicklung ist übrigens nicht allein auf den derzeitigen Innenminister zurückzuführen: Die Politik des Kollegen Schäuble steht durchaus in Kontinuität zu dem Wirken seines sozialdemokratischen Vorgängers Schily. Aber auch wenn beide großen Parteien (und dazu die CSU) einvernehmlich am Abbau der Freiheitsrechte arbeiten, so ist diese Politik doch nicht in Stein gemeißelt. Denken Sie an die Vorratsdatenspeicherung – nie haben gegen ein Gesetz so viele Menschen Verfassungsbeschwerde eingelegt wie gegen dieses. Der Versuch der FDP, in der nächsten Bundesregierung eine freiheitsbewusste Innen- und Rechtspolitik durchzusetzen, wird also auf breite gesellschaftliche Unterstützung bauen können.
Zur zweiten Frage: Ein „sozialistisches“ Wahlergebnis bringt mich nicht inhaltlich zum Sozialismus. Ich gebe ja auch zu, dass es gut tut, von den Parteifreunden so einvernehmlich unterstützt zu werden; das ist gerade in einer Partei, die sehr auf der Freiheit des Gedankens und der Meinung beharrt, etwas Besonderes.
Aber ganz unabhängig davon ist es natürlich stets – nicht zuletzt auch in der heutigen Zeit – ganz wichtig, über die soziale Komponente des Liberalismus zu sprechen. Mit Friedrich Naumann, den Sie ansprechen, eint mich die Verbindung von Liberalismus und Christentum; auch Friedrich Naumann war ein Christ, der Liberaler wurde, und ein Liberaler, der stets ein Christ blieb. Friedrich Naumann hat sich viele Verdienste erworben – weil er nicht nur ein Mann einer sozialen Idee war, sondern, viel mehr noch, ein Mann der sozialen Tat. Das schätze ich sehr. Aber was sein Programm betrifft, so ist seine Idee des Liberalismus auch eine, die an die Zeit gebunden war, in der er lebte, und die ich darum nicht in Allem teile.
Die Idee, dass der Liberalismus gerade ein soziales Prinzip ist und ein soziales Programm hat, und die Einsicht, dass man das nicht nur wissen, sondern auch sagen und in gewisser Weise leben muss: das kann die FDP durchaus von Friedrich Naumann lernen. In den konkreten Politikentwürfen hat sich der Liberalismus, Gott sei Dank, im vergangenen Jahrhundert weiter entwickelt, und auch der Gerechtigkeitsliberalismus – der verschiedene Strömungen kennt – ist über Naumann hinausgegangen. Gerade die FDP hat in den vergangenen Jahren die soziale Kraft des Liberalismus neu betont. Ich gebe zu, dass wir sie in der Vergangenheit manchmal vernachlässigt haben.
Es grüßt Sie freundlich
Otto Fricke, MdB