Portrait von Otto Fricke
Otto Fricke
FDP
100 %
34 / 34 Fragen beantwortet
Frage von Benjamin G. •

Frage an Otto Fricke von Benjamin G. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen

Sehr geehrter Herr Fricke,
ich würde gerne ein Folgefrage zu Ihrer Ausage vom 10.1.2013 stellen:

In der von Ihnen beantworteten Frage ging es darum, ob es günstiger wäre ein Parlament der Abgeordneten oder der Angestellten zu haben. Sie positionierten sich klar auf der Seite der Abgeordneten, soweit meine Zustimmung, aber ein kleiner Abschnitt erregte meine Aufmerksamkeit.

Ich zitiere:

"Abgeordnete haben Zeit, sich im Wettbewerb um die Wählergunst zu bewähren. Nach vier Jahren müssen sie mit ihrer Bilanz vor die Wähler treten. Die Wähler entscheiden, ob sie den Abgeordneten noch einmal das Vertrauen schenken - oder nicht."

Bei diesem Satz musste ich doch sehr schmunzeln. Denn wenn dem so wäre, so dürfte ja kein Abgeordneter der seinen Wahlkreis verloren hat in den Bundestag oder Landtag einziehen. Trotzdem passiert dies immer wieder über die Listenplätze.

Meine Frage:
Hat das Volk tatsächliche die Macht einen ungeliebten Politiker abzuwählen, der aber in seiner Partei einen "guten" Listenplatz hat?

Ich gebe Ihnen ein, zugegebener Maßen, sehr theoretisches Beispiel.
Angenommen am Vorabend der Bundestagswahl sinkt der Rückhalt für die Kanzlerin in der Bevölkerung. Wirklich NIEMAND wollte sie noch im Bundestag haben. Trotzdem wählen viele Leute die CDU, da sie möchten, das vielleicht Herr Schäuble oder Frau von der Leyen in den Bundestag einziehen. Wie würde man jetzt effektiv verhindern, dass Frau Merkel über Listenplatz Eins in den Bundestag einzieht?
Das Beispiel ist leider sehr theoretisch, aber ein besseres viel mir nicht ein, ich bitte dies zu entschuldigen.

Mit freundlichen Grüßen,

Benjamin Grüter

Portrait von Otto Fricke
Antwort von
FDP

Sehr geehrter Herr Grüter,

vielen Dank für Ihre Anfrage und das theoretische, aber sicherlich sehr wohlgezielte Beispiel bez. der Wahlen von Parteien in Deutschland. Sie sprechen in der Tat einen auffallenden Mechanismus unseres demokratischen Systems an.
Meine Antwort möchte ich diesbezüglich in zwei Abschnitte unterteilen. Zunächst skizziere ich die derzeitige Situation und werde dann auf Ihre Kritik eingehen.

Wenn Sie also in Ihrer Frage formulieren, dass es "passiert", dass Abgeordnete über Listenplätze gewählt werden, ist dies von unserem Wahlrecht so gewollt. Es passiert also mit Absicht.
Das Grundgesetz und das Bundeswahlgesetz regeln detailliert, wie wir unsere Volksvertreter wählen dürfen. Aufgrund unserer Geschichte, wurden den Parteien in Deutschland eine größere Machtfülle eingeräumt. Im Grundgesetz ist die Rolle der Parteien wie folgt festgelegt: "Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit. Ihre Gründung ist frei. Ihre innere Ordnung muss demokratischen Grundsätzen entsprechen." (Art. 21 I GG).

Damit hebt das Grundgesetz die Parteien in den Rang verfassungsrechtlicher Institutionen. Aufgrund ihrer Aufgabenfülle und ihrer starken Stellung in der Bundesrepublik wird oft - zum Teil auch kritisch - vom deutschen "Parteienstaat" bzw. einer "Parteiendemokratie" gesprochen.

Gleichzeitig müssen Parteien aber auch bestimmten Anforderungen entsprechen, um ihrer Rolle gerecht zu werden. So können Parteien, die "nach ihren Zielen oder nach dem Verhalten ihrer Anhänger darauf ausgehen, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen" (Art. 21 II GG), vom Bundesverfassungsgericht als verfassungswidrig erklärt und damit verboten werden. Die besondere Rechtsstellung der Parteien hat sich auch auf das Wahlrecht ausgewirkt und so gilt seit 1953 das personalisierte Verhältniswahlrecht. http://www.gesetze-im-internet.de/bwahlg/__6.html
Die Stimmen werden grundsätzlich auf Listen verteilt und garantieren den Parteien eine anteilsmäßige Vertretung im Bundestag. Derzeit werden von den 598 Bundestagsabgeordneten 299 über so genannte Landeslisten vergeben, die nur von Parteien eingereicht werden können. Sie bestimmen die Reihenfolge, in der die Kandidaten die Bundestagssitze besetzen, die ihrer Partei in einem Bundesland zustehen. Die Festlegung erfolgt in geheimer Abstimmung und nach streng demokratischen Grundsätzen. Alle anderen Abgeordneten werden in den Wahlkreisen direkt gewählt. Durch die Möglichkeit, in den Wahlkreisen Personen direkt zu wählen, erhalten die Wähler im Verhältniswahlsystem einen gewissen Einfluss auf die personelle Zusammensetzung des Parlaments. Deshalb spricht man von einer "personalisierten Verhältniswahl". Dieses System gewährleistet, dass im Bundestag ein weitgehend getreues Abbild der Wählerschaft entsteht und dass jede Stimme grundsätzlich den gleichen Erfolgswert hat. Lediglich jene Stimmen gehen verloren, die für Parteien abgegeben werden, welche bei der Auszählung unter fünf Prozent der Zweitstimmen bleiben (Sperrklausel http://www.bundestagswahl-bw.de/sperrklausel.html ). Der Wählerwille soll sich so in der Volksvertretung möglichst genau widerspiegeln, was bei einem reinen Mehrheitswahlrecht in der Regel nicht der Fall ist. (Die Mehrheitswahl zielt vor allem auf die Entstehung klarer Mehrheitsverhältnisse, während das Verhältniswahlrecht eine möglichst gerechte Vertretung der verschiedenen Kräfte erreichen will.)
Ich gebe Ihnen Recht, dass unter den Umständen, die Sie in Ihrer Frage schildern, von den Bürgen nicht verhindert werden kann, dass die entsprechenden Politiker in den Bundestag einziehen, sofern diese auf den Landeslisten der Parteien zu finden sind.
Einzuwenden ist jedoch, dass vielfach nur Politiker einen guten Listenplatz erhalten, die sich, wie ich beschrieben habe, dem Wählervotum bereits gestellt haben und durch gute Ergebnisse überzeugen konnten. Auch müssen sich die Kandidaten bei der Listenaufstellung ebenfalls einem parteiinternen Auswahlverfahren stellen. Diese Willensbildung erfolgt, wie oben dargelegt, ebenfalls nach demokratischen Grundsätzen. Zudem laufen Parteien Gefahr gar nicht gewählt zu werden, wenn Sie sich auf Kandidaten festlegen, die von den Bürgerinnen und Bürger gänzlich abgelehnt werden.
Für die Wählerinnen und Wähler eröffnen sich aber darüber hinaus noch Möglichkeiten auf die Kandidatenaufstellung und -auswahl Einfluss zu nehmen. Zum einen kann jeder in eine politische Partei eintreten und im Rahmen von parteiinternen Wahlen die Landeslisten der jeweiligen Partei mitbestimmen. Zum anderen sind den Wählerinnen und Wählern mit der Möglichkeit des sog. Stimmensplittings ebenso taktische Möglichkeiten bei der Auswahl von Kandidaten an die Hand gegeben. Hiermit beschäftigen sich auch wissenschaftliche Artikel, wie der folgende: http://www.sowi.uni-mannheim.de/gschwend/pdf/publications/GschwendPappi2004StimmensplittingKoalitionswahl.pdf
Wie Ihnen evtl. bekannt ist, kennt unser Wahlrecht mit den Verfahren: Kumulieren und Panaschieren http://www.wahlrecht.de/lexikon/kumulieren.html eine Möglichkeit, den Wählerinnen und Wählern einen größeren Einfluss auf die Kandidatenaufstellung zu geben. Ob dies immer dazu führt, dass die besten oder fleißigsten Kandidaten in die Parlamente einziehen, oder vielleicht nur die Bekanntesten, lasse ich mal dahin gestellt.
Ihrer Einschätzung, dass Politiker nicht abgewählt werden können, kann ich nicht zustimmen. Mit dem personalisierten Verhältniswahlrecht haben Sie es selbst in der Hand das Parlament als Spiegelbild des Wählerwillens auszugestalten und jede Koalitionsregierung zwischen demokratischen Parteien möglich zu machen. Der Souverän hat damit das grundgesetzlich fixierte Recht, eine Regierung ohne Gewalt abzuwählen und durch eine neue zu ersetzen. Gemessen an den Tragödien, die Folge anderer Wege des Regierungswechsels sind, ist das ein großes Glück.

Mit freundlichen Grüßen
Otto Fricke

Was möchten Sie wissen von:
Portrait von Otto Fricke
Otto Fricke
FDP