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Omid Nouripour
Bündnis 90/Die Grünen
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Frage von Christopher S. •

Frage an Omid Nouripour von Christopher S. bezüglich Außenpolitik und internationale Beziehungen

Sehr geehrter Herr Nouripour,

als Mitglied des Ausschusses "Angelegenheiten der Europäischen Union" haben Sie sich sicherlich intensiv mit dem Vertrag von Lissabon beschäftigt, der bald vom Bundestag ratifiziert werden soll.

Wie beurteilen Sie als Politiker der Grünen die folgenden Punkte des Vertrages:

1. Möglichkeit eines, u.U. auch präventiven, Militäreinsatzes im Innern der EU (AEUV Art. 222),

2. Verpflichtung der Mitgliedstaaten zur Verbesserung ihrer militärischen Fähigkeiten (Aufrüstungsverpflichtung - EUV Art. 43 (3) II) und zur Ergreifung von Maßnahmen zur Stärkung der industriellen und technologischen Basis des Verteidigungssektors (EUV Art. 45 (1) e),

3. Möglichkeit von Kampfeinsätzen im "Dienste der Interessen" der EU, zu denen insbesondere auch wirtschaftliche Interessen zählen (EUV Art. 42 (5) und 43 (1)),

4. Festschreibung des bekannten Demokratiedefizits der EU (vgl. EUV Art.17 und AEUV Art. 244ff. für die Machtbündelung bei der Kommission, weitgehend ohne äußere Kontrolle),

5. Steigerung der Produktivität der Landwirtschaft als Zielsetzung anstelle von nachhaltiger Entwicklung (AEUV Art. 39 (1) a),

6. Liberalisierung des Dienstleistungssektors (AEUV Art. 56ff.),

7. Liberalisierung der internationalen Handelsbeziehungen als Zielsetzung der Gemeinsamen Handelspolitik (AEUV Art. 206), was die in EUV Art. 3 (5) genannten Ziele (gerechter Handel, nachhaltige Entwicklung) letztlich doch auf "freien Handel" verkürzt und die anschließend behandelte Entwicklungszusammenarbeit (AEUV Art. 208ff.) in ein anderes Licht rückt.

Ich danke Ihnen für Ihre Stellungnahme und grüße Sie herzlich!

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Antwort von
Bündnis 90/Die Grünen

Sehr geehrter Herr Selbach,

vielen Dank für Ihre Frage.

Ich habe der Ratifizierung des Vertrages von Lissabon zugestimmt, da die EU dringend Reformen braucht, die den Grundrechtsschutz stärken, für effiziente Institutionen und transparente Verfahren sorgen und die demokratische Legitimation der EU erhöhen. Mit dem Vertrag von Lissabon, der die wesentlichen Reformen des Verfassungsvertrages enthält, werden unsere politischen Kernforderungen erfüllt, konkret sind dies: die Grundrechtecharta wird rechtsverbindlich, das Europäische Parlament erhält mehr Rechte, mehr europäische Außenpolitik wird möglich (auch wenn der EU-Außenminister nicht mehr so heißen darf) und der Rat stimmt häufiger per Mehrheit ab, statt die EU durch Einstimmigkeit zu blockieren. Mit dem Vertrag von Lissabon kann die seit sieben Jahren währende Hängepartie zur Reform der EU endlich beendet werden.

Daneben enthält der Vertragstext -wie Sie es in Ihrer Frage aufgreifen- auch problematische Passagen. An vielen der von Ihnen angesprochenen Punkte hätte ich mir andere, eindeutigere oder zukunftsgewandtere Regelungen im Vertragstext gewünscht. So stehe ich ebenso kritisch zum Vertrags-Artikel zur Verbesserung der militärischen Fähigkeiten wie zum Fortbestehen des Euratom-Vertrages, der dem Prinzip der Nachhaltigkeit widerspricht und eigentlich überholt ist.

Der Vertragstext ist ein Kompromiss, der von 27 Mitgliedsstaaten unter schwierigen Bedingungen ausgehandelt wurde. Die Kritik am Vertrag von Lissabon ist berechtigt, doch gleichzeitig schafft er dringend benötigte neue Gestaltungsspielräume. In den meisten zu kritisierenden Punkten bringt er außerdem keine Verschlechterung, sondern spiegelt lediglich den längst praktizierten Status quo wider. Hätte ich gegen den Vertrag gestimmt, hätte ich damit gleichzeitig Neuverhandlungen einfordern müssen. Doch neue Verhandlungen hätten mit Sicherheit zu neue Verschlechterungen und zu Einschränkung des positiv erreichten geführt. Ich hoffe, vor diesem Hintergrund können Sie mein Abstimmungsverhalten zum Vertrag von Lissabon nachvollziehen.

Mit freundlichen Grüßen
Omid Nouripour

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