Frage an Nils Schmid von Dominik B. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
Sehr geehrter Herr Schmid,
Sie behaupten in Bezug auf Stuttgart 21: "Zu dem Zeitpunkt als die Entscheidungen durch die demokratisch legitimierten Gremien getroffen wurden, haben Umfragen eine mehrheitliche Zustimmung zum Projekt ermittelt."
Können Sie das bitte belegen? In den letzten fünf Jahren habe ich davon noch nie gehört.
Sie sagen: "Es wäre aber unlauter, den Bürgern nun vorzugaukeln, die damals getroffenen Entscheidungen seien wieder zu kippen; die Verträge sind verbindlich geschlossen." Gibt es ein Gesetz, das es verbietet Verträge wieder aufzulösen? Was wäre, wenn diejenigen, die die Verträge geschlossen haben, nicht mehr an der Macht sind?
Sie sagen: "Darauf hat der Ausgang der Landtagswahl keinen Einfluss." Warum nicht?
Und was glauben Sie nimmt die Landtagswahl in Baden-Württemberg im März 2011 für einen Ausgang? Vor allem, wenn Sie wissen, dass die Grünen mit ihrer Anti-Stuttgart21-Haltung die stärkste Fraktion im Gemeinderat in Stuttgart geworden sind und die SPD nur noch 17% bekommen hat. Warum sollte es nicht auch bei der Landtagswahl so sein, wenn das Land immerhin einen Anteil von mindestens 823,8 Millionen Euro übernimmt und Menschen außerhalb der Region Stuttgart gar nicht von diesem Projekt profitieren?
Ich freue mich auf Ihre Antwort und verbleibe
mit freundlichen Grüßen
Dominik Blacha
Sehr geehrter Herr Blacha,
die Entscheidungen für Stuttgart 21 sind schon vor mehr als fünf Jahren gefallen. Zuletzt ging es nur noch um die Frage, ob der Kostenrahmen eingehalten werden kann. Dazu habe ich mich mich an dieser Stelle bereits geäußert.
Die Belege für die damalige Zustimmung in Umfragen finden Sie in den Zeitungsarchiven.* Meine Aussage zielte aber auf etwas anderes ab: Demokratisch getroffene Entscheidungen müssen verlässlich sein; sie können sich nicht an Umfragewerten orientieren, die mal so, mal so ausfallen, sondern stützen sich auf Mehrheiten in demokratisch legitimierten Parlamenten. Stuttgart 21 hatte und hat immer noch große Mehrheiten, im Bundestag, im Landtag, in der Regionalversammlung und auch im Gemeinderat der Stadt der Stuttgart.
Es gibt kein Gesetz, zumindest kein geschriebenes, welches die Auflösung der geschlossenen Verträge verbietet. Aber die Vernunft gebietet es. Und die Verträge gelten selbstverständlich auch nach Regierungswechseln weiter. Hypothetisch gesprochen: Sollten die Gegner von S21 bei der Landtagswahl eine absloute Mehrheit erringen, dann könnten die Verträge selbst dann nur zu immensen Kosten (nahezu in Milliardenhöhe) aufgelöst werden oder vielmehr: sie müssten gebrochen werden um den Preis von gigantischen Kozessionalstrafen. Die Grünen können sich ihre populistische Haltung bei diesem Thema nur erlauben, weil sie nicht in diese Situation kommen werden. Mit verantwortungsvoller oder gar transparenter Politik hat das nichts zu tun. Hier werden Hoffnungen geschürt und Erwartungen erzeugt, die die Verantwortlichen nicht einlösen können - das nenne ich unlauter.
Selbst mit einer schwarz-grünen Landesregierung würde Stuttgart 21 kommen. Nicht kommen wird dann aber eine bessere Bildungspolitik, eine innovative, mittelstandsfreundliche Wirtschaftspolitik, eine offene und tolerante Gesellschaft und vieles andere, was für unser Land dringend nötig wäre. Mit einer starken SPD aber schon!
Mit freundlichen Grüßen
Nils Schmid
*) Ich habe einen Mitarbeiter gebeten, die Umfrageergebnisse zu recherchieren, weshalb sich die Antwort verzögert hat. Hier das Ergebnis:
* Eine Bürgerbefragung der Stadt Stuttgart hat für 1997 eine
Mehrheit pro Stuttgart 21 von 38% gegenüber 33% Ablehnung ergeben.
1995 war die Zustimmung sogar noch höher:
http://service.stuttgart.de/lhs-services/komunis/documents/2358_1.PDF
* 1999 ist das Verhältnis in der gleichen Umfrage nicht etwa
gesunken, sondern in der Tendenz immer noch gleichbleibend:
http://service.stuttgart.de/lhs-services/komunis/documents/2010_1.PDF
* Eine Untersuchung der Uni Stuttgart hat für 1997 über 38%
Zustimmung und knapp 25% Ablehnung ermittelt; 2008 halten sich
Befürworter und Gegner immer noch die Waage:
http://content.stuttgarter-nachrichten.de/media_fast/626/Stuttgart%2021%20-%20080415neu.pdf
* Am 27.9.2006 wurde folgende Umfrage veröffentlicht:
*Mehrheit der Bürger für Stuttgart 21*
STUTTGART - Die Mehrheit der Stuttgarter Bürger ist nach einem
Bericht der "Stuttgarter Zeitung" für das Milliarden-Bahnprojekt
Stuttgart 21. In einer von der Zeitung in Auftrag gegebenen
repräsentativen Umfrage des Instituts für Marktforschung Leipzig
sprachen sich 54 Prozent der Befragten für die Verlegung des
Stuttgarter Hauptbahnhofs unter die Erde und den Neubau einer
ICE-Strecke nach Ulm aus. 38 Prozent der befragten Einwohner
sagten, sie seien gegen das Projekt, vier Prozent zeigten sich
gleichgültig. Befragt wurden 1006 Einwohner Stuttgarts, die
Fehlertoleranz der Studie liegt bei 2,8 Prozent. Die meisten
Befürworter hat "Stuttgart 21" der Umfrage zufolge mit 65 Prozent
in der Altersgruppe der 18- bis 29-Jährigen am meisten Befürworter.
Es bleibt dabei: Umfragen können der Politik wertvolle Hinweise über Stimmungen in der Bevölkerung geben, sie können aber nicht Grundlage für ständige politische Kurswechsel bei parlamentarischen Abstimmungen sein.