Was antworten Sie auf folgendes Statement? Afghanistan ist ein weiteres Beispiel für die zerstörerische Politik des Machtstrebens, auch des deutschen Machtstrebens.
Sehr geehrter Herr Krämer,
für Ihre Frage zur aktuellen Lage in Afghanistan danke ich Ihnen. Die Berichte und Bilder, die uns von dort erreichen, sind bestürzend. Die Entwicklungen haben sich am vergangenen Wochenende überschlagen. Die Taliban haben in kürzester Zeit das Land und die Hauptstadt Kabul unter ihre Kontrolle gebracht. Die afghanischen Sicherheitskräfte hatten dem wenig entgegenzusetzen, der Staatspräsident ist aus dem Land geflohen.
In den vergangenen Tagen erreichten mich unzählige Nachrichten über Menschen, die vor Ort um ihr Leben fürchten. Viele haben mit mir Ihre Sorgen und Ängste geteilt oder mich um Hilfe gebeten, um Menschen in Afghanistan eine rasche und sichere Ausreise zu ermöglichen. Mein Team und ich kümmern uns mit Hochdruck um jeden Fall, der an uns herangetragen wird. Ich versuche zu helfen, wo es nur möglich ist. Wir kämpfen um jedes Menschenleben.
Inzwischen ist die Luftbrücke angelaufen und mehr als 900 Personen wurden bereits mit Evakuierungsflügen aus Afghanistan ausgeflogen und in Sicherheit gebracht. Dabei handelt es sich um Landsleute, Bürgerinnen und Bürger aus EU- und Drittstaaten sowie Afghaninnen und Afghanen, die für uns gearbeitet haben oder von den Taliban bedroht werden. Wir haben eine große Verantwortung denen gegenüber, deren Tätigkeit für deutsche Einrichtungen jetzt eine besondere Gefahr für ihr Leib und Leben darstellt. Das Auswärtige Amt hat sich in den vergangenen Monaten unablässig für eine schnelle und unbürokratische Ausreise der afghanischen Ortskräfte eingesetzt. Zusätzlich soll auch weiteren Afghaninnen und Afghanen die Ausreise ermöglicht werden, die für deutsche Entwicklungseinrichtungen, NGOs, Medien oder Stiftungen gearbeitet haben. Auch Menschen- und Frauenrechtsverteidigerinnen und -verteidiger, Journalistinnen und Journalisten sowie Kulturschaffende gehören dazu.
Die unübersichtliche Lage vor Ort lässt keinen Zweifel, dass die Evakuierungsaktion militärisch abgesichert werden und dass es angesichts der sich überschlagenden Ereignisse in Afghanistan schnell gehen muss. Die Bundeswehr wird die Evakuierung mit Spezialkräften und in enger Abstimmung mit unseren NATO-Partnern absichern. Das dafür notwendige Bundestagsmandat wird der Deutsche Bundestag in der kommenden Woche nachträglich beschließen. Bei „Gefahr im Verzug“ sieht das Parlamentsbeteiligungsgesetz dieses flexible Verfahren ausdrücklich vor.
Viele Afghaninnen und Afghanen haben vor den Taliban die Flucht ergriffen. Familien mit Kindern suchen nun Schutz in den Nachbarländern. Jetzt muss es darum gehen, einer humanitären Notlage frühzeitig zu begegnen. Deutschland, Europa und die internationale Staatengemeinschaft müssen die Anrainerstaaten bei der Aufnahme und Versorgung afghanischer Flüchtlinge zügig unterstützen.
Heute ist es zu früh, um eine abschließende Beurteilung des Afghanistan-Einsatzes vorzunehmen. Ich habe den Militäreinsatz für richtig gehalten, weil es ohne militärischen Schutz keine Sicherheit und keinen Aufbau geben kann. Fast zwei Jahrzehnte haben viele intensiv daran gearbeitet, das Leben der Menschen in Afghanistan zu verbessern. Infrastruktur wurde aufgebaut. 20 Jahre haben die Menschen in Afghanistan, vor allem Mädchen und Frauen, wieder Zugang zu Bildung und Gesundheitsversorgung gehabt. Das droht jetzt alles wieder zunichte gemacht zu werden. Die aktuellen Entwicklungen zeigen leider, dass die afghanischen Militär- und Sicherheitskräfte nicht ausreichend vorbereitet waren, um ihre eigene Bevölkerung zu schützen. Es gibt nichts zu beschönigen. Das ist eine furchtbare Tragödie für die Menschen.
Bei der Komplexität und langen Geschichte des Engagements geht es darum, die Geschehnisse und die Ereignisse angemessen aufzuarbeiten. Wir haben als SPD-Bundestagsfraktion in einem im Juni verabschiedeten Positionspapier deswegen eine Gesamtevaluierung des zivilen, polizeilichen und militärischen Engagements in Afghanistan gefordert. Um unser Handeln zu bewerten und Lehren für die Zukunft zu ziehen, fordern wir dafür die Einsetzung einer Enquête-Kommission des Deutschen Bundestages in der kommenden Legislaturperiode.
Mit freundlichen Grüßen
Michael Roth