Prof. Schulze-Wessel, ein ausgewiesener Ost(mittel)europahistoriker, diagnostiziert Ihrer Partei fehlende außenpolitische Kompetenz. Sind Sie die letzten Jahre in der falschen Partei gewesen?
Prof. Schulze-Wessel, ein ausgewiesener Ost- und Ostmitteleuropahistoriker, diagnostiziert Ihrer Partei (zu Recht) fehlende außenpolitische Kompetenz: https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/martin-schulze-wessel-spd-hat-keine-aussenpolitische-kompetenz-19620630.html. Wie sehen Sie die Bilanz und die zeitenwenderesistenten Kontinuitäten der verfehlten Außen-, Sicherheits- und Russlandpolitik Ihrer Partei, in der Sie zu den wenigen, absoluten Ausnahmen zählen und wohl nicht umsonst zu Ihren Plänen, die Politik zu verlassen, auch die Schwierigkeiten in der Partei angedeutet hatten?
Sehr geehrter Herr H.,
für Ihre Frage danke ich Ihnen und nehme gerne dazu Stellung.
Russlands butaler Angriffskrieg gegen die Ukraine hat uns alle wach gerüttelt. Er war eine Zäsur und hat uns gezwungen, vermeintliche Gewissheiten zu überdenken und die deutsche Politik der vergangenen Jahrzehnte gegenüber Russland und den Staaten Mittel- und Osteuropas grundlegend auf den Prüfstand zu stellen. Im Rückblick war es ein schwerer Fehler, dass wir trotz vieler Warnsignale weiter auf eine enge Partnerschaft mit Russland gesetzt und die Warnungen unserer mittel- und osteuropäischen Partner nicht ernst genommen haben. Wir haben uns immer tiefer in eine einseitige Energieabhängigkeit von Russland begeben und diese nach der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim 2014 mit Nord Stream 2 sogar noch weiter ausbauen wollen. Und wir haben vergessen, dass Dialogbereitschaft gegenüber Moskau immer auch mit Wehrhaftigkeit und Abschreckung einhergehen muss. Wahr ist aber auch: Diese Politik wurde in Deutschland bis zum 24. Februar 2022 von einer breiten politischen und gesellschaftlichen Mehrheit getragen.
Wir sind in Deutschland bei der Unterstützung der Ukraine einen sehr langen Weg gegangen. Nach dem russischen Überfall auf die Ukraine haben wir zunächst mit dem Grundsatz gebrochen, keine Waffen in Kriegsgebiete zu liefern. Inzwischen sind wir nach den USA der größte militärische Unterstützer der Ukraine und liefern moderne Kampf- und Schützenpanzer, Mehrfachraketenwerfer, Panzerhaubitzen und Flugabwehrsysteme. Das kann sich sehen lassen, auch wenn ich mir bei den Entscheidungsprozessen mehr Tempo gewünscht hätte.
Auch meine Partei musste sich nach Kriegsbeginn die Frage stellen: Verstoßen Waffenlieferungen in Kriegsgebiete gegen unsere Prinzipien? Vielen in der SPD ist es nicht leicht gefallen, von dem alten Leitsatz „Frieden schaffen ohne Waffen“ umzuschwenken auf „Frieden schaffen mit Waffen“. Aber wir sind diesen Weg gemeinsam gegangen, um die Ukraine in ihrem Freiheitskampf auch militärisch bestmöglich zu unterstützen.
Ich hatte schon früh einen kritischen Blick auf Russland, der inzwischen von vielen in der Partei geteilt wird. Die Fehler der Vergangenheit im Umgang mit Russland hingen uns nach Putins Angriff wie eine zentnerschwere Last um den Hals. Daher ist es gut, dass sich die SPD anders als CDU/CSU diesem schmerzhaften Aufarbeitungsprozess gestellt hat. Auf dem SPD-Bundesparteitag im Dezember 2023 haben die Delegierten mit großer Mehrheit einen außenpolitischen Leitantrag verabschiedet, der sich selbstkritisch mit den Fehlern der Russlandpolitik befasst. Wenn Sie Zweifel an der außenpolitischen Kompetenz der SPD haben, empfehle ich Ihnen wärmstens die Lektüre des Leitantrags „Sozialdemokratische Antworten auf eine Welt im Umbruch“ unter https://parteitag.spd.de/fileadmin/parteitag/Dokumente/Beschluesse/Beschluss_A01.pdf.
Mit freundlichen Grüßen
Michael Roth