Können Sie sich vorstellen, ihre Entscheidung zur Wehrdienstverweigerung zu widerrufen?
Sehr geehrter Herr Roth, mit Interesse habe ich ihr Interview am 12.02.2024 in der Welt gelesen, in dem Sie eine weitergehende Unterstützung für die Ukraine und ein "Stoppen" des russischen Imperialismus fordern. Inhaltlich stimme ich mit allen ihren Aussagen überein. Mit der Glaubwürdigkeit habe ich allerdings Probleme. Die SPD hat trotz der Annexion der Krim 2014 bis zur Zeitenwende jede Stärkung der Bundeswehr blockiert und die dringend notwendige Drohnenbewaffnung verhindert. An sich richtige Lageeinschätzungen kommen jetzt aus dem Mund von Politikern, die für sich persönlich den militärischen Dienst ablehnen. Als Soldat der Bundeswehr, der selber an mehreren Einsätzen teilgenommen hat, unter anderem AFG, sind solche Interviews folglich wenig glaubhaft. Wäre es nicht ein richtiges Zeichen, wenn Sie und andere Bundespolitiker die Wehrdienstverweigerung widerrufen und wenigstens eine verkürzte Grundausbildung absolvieren? Mit freundlichen Grüßen, J. B.
Sehr geehrter Herr B.,
für Ihre Frage danke ich Ihnen und nehme gerne dazu Stellung.
Nach Ihrer Logik könnten nur Frauen gute Frauenpolitik, nur Ärzte gute Gesundheitspolitik und nur Soldaten gute Verteidigungspolitik machen. Ich muss aber selbst kein Soldat sein oder meinen Wehrdienst absolviert haben, um zu erkennen, dass sich die Welt um uns herum in den vergangenen 34 Jahren dramatisch verändert hat.
Meinen Zivildienst habe ich in den Jahren 1990/91 absolviert. Wenige Monate zuvor war die Mauer gefallen. Mit dem Ende des Kalten Krieges und der Wiedervereinigung wurde die Bundesrepublik vom Frontstaat zu einem Land in der Mitte Europas, das nur noch von befreundeten Staaten umgeben war. In diesem Umfeld traf ich als damals 20-Jähriger die persönliche Entscheidung, den Wehrdienst zu verweigern und Zivildienst zu absolvieren.
Ich war aber nie ein Pazifist, sondern immer ein Realist. Spätestens mit Russlands brutalem Überfall auf die Ukraine am 24. Februar 2022 war mir klar,, dass - neben Diplomatie, humanitärer Hilfe, Entwicklungszusammenarbeit und ziviler Konfliktprävention - auch militärisches Vorgehen im Rahmen des Völkerrechts ein legitimes Mittel einer realistischen Friedenspolitik ist, die sich im Umfeld zu gewaltbereitem Autoritarismus bewegt. Wir haben in den vergangenen Jahrzehnten zu sehr aus dem Blick verloren, dass zur Dialogbereitschaft immer auch Wehrhaftigkeit und Abschreckung gehören. Deshalb müssen wir jetzt massiv in unsere Fähigkeit zur Landes- und Bündnisverteidigung investieren.
Für Sie mag es unglaubwürdig wirken, dass ich als früherer Zivildienstleistender heute offen für solche Positionen eintrete. Ich verstehe das aber vor allem als Zeichen von Lernfähigkeit, wenn man angesichts völlig veränderter Rahmenbedingungen nicht an alten Gewissheiten festhält, sondern zum Umdenken imstande ist.
Mit freundlichen Grüßen
Michael Roth