Frage an Michael Roth von Hannes R. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
Sehr geehrter Herr Roth,
ich wende mich an Sie in Ihrer Eigenschaft als Mitglied des Ausschusses für Angelegenheiten der Europäischen Union.
Wie beurteilen Sie die zum Vertrag von Lissabon vor dem Bundesverfassungsgericht vorgetragene Kritik insbesondere im Hinblick auf die demokratischen Strukturen der Europäischen Union?
Wie beurteilen Sie das bald zur Entscheidung anstehende Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht (Az. 2 BvR 2661/06) zu der umstrittenen "Mangold-Entscheidung" des Europäischen Gerichtshofes? Welche Position vertreten Sie gegenüber dem Vorwurf, der Gerichtshof überschreite durch die Etablierung eines hohen, gemeinschaftsrechtlichen Grundrechtsschutzes seine Kompetenzen?
Herzlichen Dank für Ihre Antwort.
Mit freundlichen Grüßen,
Hannes Rathke
Sehr geehrter Herr Rathke,
für Ihre Anfrage zur demokratischen Verfasstheit der Europäischen Union danke ich Ihnen. Die Kritik am Vertrag von Lissabon, die während der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverfassungsgericht vorgetragen wurde, teile ich nicht. Der Vertrag von Lissabon bringt der EU nicht nur mehr Handlungsfähigkeit, sondern auch mehr Demokratie: Durch den Vertrag von Lissabon gewinnen schlussendlich die Bürgerinnen und Bürger der EU.
Die Weiterentwicklung demokratischer Strukturen entwickelte sich in der EU kontinuierlich. Das Europäische Parlament als Sprachrohr der Bürgerinnen und Bürger ist mit seinem gewachsenen Einfluss bester Beleg hierfür. Durch den Vertrag von Lissabon ist das Europäische Parlament mit dem Rat auf einer Augenhöhe, denn das Mitentscheidungsverfahren wird zum ordentlichen Gesetzgebungsverfahren. Damit gewinnt die demokratische Legitimation durch das Europäische Parlament beachtlich hinzu.
Die nationalen Parlamente sind durch neue Mitwirkungsrechte auf europäischer Ebene ebenfalls Profiteure dieser Reform. Sie können im Rahmen der Subsidiaritätskontrolle Gesetzentwürfe rügen und nach Erlass eines EU-Rechtsakts eine Überprüfung durch den Europäischen Gerichtshof in Luxemburg veranlassen. Die Fraktionen der CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen wollen gemeinsam das Grundgesetz ändern, damit schon eine Minderheit von einem Viertel der Mitglieder des Bundestages eine Subsidiaritätsklage erheben kann. Es geht also um eine Stärkung des Bundestages und der Rechte der Opposition.
Die Kritik an der Urteilsbegründung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) im Fall Mangold ist mir bekannt. Die durch das Urteil entstandene Rechtslage wird nunmehr vom Bundesverfassungsgericht (BVerfG) auf ihre Vereinbarkeit mit nationalen Grundrechten überprüft. Die Entscheidung des BVerfG bleibt abzuwarten. Politisch halte ich jedoch eine Diskriminierung ausschließlich aufgrund des Alters angesichts des demografischen Wandels unserer Gesellschaft und des erhöhten Renteneintrittsalters für falsch. Befristungen von Arbeitsverträgen, die nur vom Alter abhängig gemacht werden, entsprechen nicht den gesellschaftlichen Realitäten.
Das BVerfG ist mit dem EuGH in einem engen dialogischen Kooperationsverhältnis und hat sich selbst eine Wächterfunktion zugeschrieben. In der Solange II-Entscheidung hat das BVerfG beschlossen, Gemeinschaftsrechtsakte nicht an den Grundrechten zu überprüfen, solange durch den EuGH ein Grundrechtsschutz besteht, der im Wesentlichen dem Deutschen entspricht.
Die Gewährleistung eines hohen Grundrechtsschutzes ist zwingende Voraussetzung und Bedingung demokratisch verfasster Gesellschaften. Durch das Inkrafttreten der Grundrechte-Charta mit dem Vertrag von Lissabon wird der Schutz der Grundrechte durch das Grundgesetz und das Bundesverfassungsgericht ergänzt. Durch die Herausbildung eines Mehrebenensystems bedarf es auch eines Grundrechtsschutzes auf verschiedenen Ebenen.
Ich bedauere sehr, dass erstens Großbritannien und Polen einen Sonderweg gewählt haben, und dass zweitens die Grundrechte-Charta nicht integraler Bestandteil des Vertrags von Lissabon ist. Faktisch aber sind die Mitgliedstaaten nach Art. 6 Absatz 1 EUV auf die Grundrechte verpflichtet. Zum anderen gelten die europäischen Grundrechte als allgemeine Rechtsgrundsätze, wie sie der EuGH richterrechtlich entwickelt hat. Langfristig ist jedoch nach wie vor eine europäische Verfassung mit einem rechtsverbindlichen Grundrechtekatalog das Ziel sozialdemokratischer Europapolitik.
Ich hoffe, Ihre Fragen beantwortet zu haben und verbleibe
mit freundlichen Grüßen
Ihr Michael Roth